In der Inszenierung von Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock bleiben viele Fragen offen, findet unser Kritiker Joachim Lange: „Die Grundidee der Inszenierung ist nicht ohne Plausibilität, aber schon deutlich packender und sinnlicher umgesetzt worden. Im Detail bleibt vieles diffus, gerät konventionell oder aber übertrieben aktionistisch.“
Richard Wagners „Meistersinger von Nürnberg“ gehören natürlich nach Berlin. Auch an die Deutsche Oper. Wagner und die Deutschen – das ist kaum deutlicher auf einen Punkt zu bringen, als in dieser erfundenen, beinahe demokratischen barocken Nürnberg-Idylle. Mit Menschen, in die man sich sogar hinein fühlen kann. In den Schusterpoeten Hans Sachs und seine etwas schrulligen Meistersingerkollegen, die alle nebenbei ein gescheites Handwerk repräsentieren. Auch in den Zugereisten Hoppla-jetzt-komm-ich Sänger Walther von Stolzing. Als fränkischer Ritter ist der nicht mit ihren Regeln groß geworden und rennt die fein austarierte Tabulatur der Sangeskunst mit seinem Genie über den Haufen. Ebenso die des Zusammenlebens. Vor allem, wenn es um Eva Pogner geht, in die er sich auf Knall und Fall verliebt hat. Dann passt er sich aber doch an, hat Hans Sachs letztlich auf seiner Seite, gewinnt mit seiner „Traumdeutweise“, weil er den Nerv der Masse trifft, kriegt seine Eva, verzichtet dann aber auf die dazugehörige Meisterwürde. Wie so oft macht er sich jetzt auch in Berlin bei Jossi Wieler, Sergio Morabito und Anna Viebrock, die wieder als Regietrio fungieren, durchs Parket auf und davon. Sachs singt den beiden noch hinterher, hat aber nur noch seine Nürnberger auf der Bühne und die Zuschauer im ausverkauften Saal als Zuhörer.
Mal abgesehen von der Musik und davon, dass hier niemand zu Tode kommt, gibt es gerade in diesem Werk aber auch ein paar Stolpersteine, die es in sich haben und zu denen sich jede Inszenierung bewusst oder unbewusst „verhält“.
Die Rolle von Stolzings Rivalen bei Eva, Sixtus Beckmesser, etwa. Ist der nun „nur“ der verballhornte Wagner-Kritiker, oder der Außenseiter, vielleicht sogar der noch nicht verstandene Avantgardist? Oder ist es der Jude, dessen Rausschmiss zum Kitt eine Gemeinschaft wird, die eben nur sehr bedingt reformbereit ist? Und ist die Prügelfuge am Ende des zweiten Aktes eine sommerliche Schlägerei aus nichtigem Anlass oder der gewaltsame Ausbruch der dunkelsten Seite des deutschen Unterbewusstseins?
Oder Sachsens Ansprache mit der Feier der heiligen deutschen Kunst, sprich überhaupt des Deutschen? Hätte Wagner das alles nach der Reichsgründung 1871 geschrieben wäre toxischer Nationalismus wohl die eindeutige Diagnose. Aber so? Die Meistersinger gingen 1868 in München das erste Mal über die Bühne. (Gerade gab es in Bonn – quasi zum Vergleich – Giacomo Meyerbeers preußisches „Heil-dir-im-Strahlenkranz-Getöse“ für den Preußenkönig, mit dem man sich mit dem „Feldlager in Schlesien“ in Berlin ab 1844 selbst glorifizierte …) Hans Sachsens und Wagners Lob der deutschen Kunst kann man heute durchaus auch als einen Diskursbeitrag über die Rückkopplungen der Globalisierung auf das Nationale ernst nehmen.
Es gehört zu den gelungenen Details einer insgesamt eher weniger überzeugenden Inszenierung, wie sich Sachs am Ende nicht nur selbst an seiner Rede berauscht, sondern die Massen in populistischer Manier mitreißt. Tritt man einen Schritt zurück und vergegenwärtigt sich die laufenden Diskurse in unseren Medien, ist das von beklemmender Aktualität. Immerhin überkommt die in der Kunsthochschule lehrenden Kollegen von Sachs, von wenigen Ausnahme abgesehen, das kalte Grausen über diese Art von auflodernder nationaler Euphorie. Wenn man das sieht, dann kann man nur sagen: recht hat er – „Verachtet mir die Meister nicht!“
Wenn die Inszenierung aus dem Handwerkermilieu von annodazumal eines der Kunsthochschulen von heute (oder einem nicht allzu weit zurückliegenden Gestern) macht, dann knüpft sie direkt an den Kunstdiskurs an, den Wagner ja so bis ins kleinste Detail treibt, dass man bei irgendeinem poetisch benannten Ton oder einer entsprechenden Weise aussteigt und sich nur noch über diese Regelversessenheit amüsiert.
Aber dem Schusterpoeten sind beim Berufswechsel zum Physiotherapeuten für den studierenden Nachwuchs und die Kollegen, nicht nur seine Schuhe abhanden gekommen. Wenn ihm ein handfestes Verhältnis mit Eva angedichtet wird, bringt das nicht nur ziemlich viel Unbequemlichkeiten für Interpreten bei ihren erotischen Bodenturnübungen – diese Überschreibung haut auch nicht wirklich hin. Abgesehen vom Schuster, der barfuß geht, fragt man sich, warum alle am Ende mit Kunststofflatschen ausgestattet sind, als wären sie das Personal einer Rehaklinik.
Dabei ist die Bühne, einer von Anna Viebrocks historisch aufgeladenen Räumen, holzvertäfelt. Vor allem aber bieder. Mit modernen Bürotüren für die Professoren. Und einer Aula mit Bühne samt Vorhang für das Wettsingen. Diesmal wird auch die Klopperei in der Johannisnacht zu einem Mitternachtskonzert, bei dem Beckmesser Neues vorzutragen versucht, während ihm sein brav angerücktes Publikum auf den Stühlen wegnickt und erst erwacht, als ihm Sachs mit seinen Stöcken fürs Schlagzeug immer wieder auf den Flügel dazwischen trommelt. Es endet wüst, aber nicht mit der sonst üblichen Beschwörung der deutschen Dämonen. Beckmesser wird hinauskomplimentiert. Der einzige, der hier wirklich zuschlägt, ist Sachs. Mit der Flasche auf den Kopf von Stolzing, um dessen Flucht zu verhindern. Wieso dann Beckmesser im nächsten Aufzug an zwei Krücken geht, erfährt man nicht – auch nicht, wieso Sachs Walther im zweiten Akt zwar seinen festlichen Mantel reicht, der ihn aber dann im nächsten beim Gesangswettbewerb doch nicht überzieht. Aber das gehört in die Kategorie von vielen Rätseln, in der sich schon das unfassbar hässliche Schuhwerk wichtig macht.
Der erste Aufzug ist solide konventionell und wird mit einhelligem Beifall quittiert. Beim zweiten sieht das schon anders aus. Dabei hat sich Thomas Lehman als Fritz Kothner alle Mühe gegeben, mit seinem Wohlwollen gegenüber den Studentinnen eine Fußnote in Richtung Machtmissbrauch und Übergriffigkeiten an Hochschulen zu platzieren. Als der behäbige Albert Pesendorfer als Veit Pogner seinen absurden Vorschlag macht, seine Tochter als Siegesprämie auszusetzen, ist der Künstlernachwuchs zwar sichtlich empört, belässt es dann aber bei einem metaphorischen Kopfschütteln und beschäftigt sich doch bald vor allem mit sich selbst. Jeder mit jedem, drüber und drunter. Sie machen das zwar gut, aber es wirkt dann doch etwas arg aus der Zeit gefallen.
Wenn sich die vor allem mit körperlichem Aktivismus als Eva einbringende Heidi Stober von (ihrem offensichtlich gelegentlichen Exliebhaber) Sachs endgültig verabschiedet, dann passt das zum Treiben der Studenten. Na ja, wenn der populärste Prof. ohne Schuhe rumläuft….
Beim Aufmarsch zur Festwiese knallen plötzlich alle Türen zu und dem armen David (den Ya-Chung Huang überzeugend singt und als Sympathieträger spielt) wird Angst und Bange. Der metaphorische Unwettereinfall für zwischendurch halt.
Die Grundidee der Inszenierung ist nicht ohne Plausibilität, aber schon deutlich packender und sinnlicher umgesetzt worden. Im Detail bleibt vieles diffus, gerät konventionell oder aber übertrieben aktionistisch. Musikalisch pegeln sich Markus Stenz und das Orchester der Deutschen Oper zum Glück nach dem krachenden Vorspiel auf die Stimmen ein. Im „Selig, wie die Sonne“ (Quintett) sind sie jedenfalls alle bei sich und hören aufeinander. Hier wäre ein (natürlich nur gedanklicher) Zwischenapplaus angebracht gewesen. Philipp Jekal hält sich als Beckmesser ebenso wacker wie Annika Schlicht als zupackende Magdalena. Die Stimme und Diktion von Johan Reuters Sachs sind Geschmacksache – er verzichtet auf alles Salbungsvolle (oder auch lebenserfahrene) und setzt mehr die etwas ruppig körperliche Spielweise auch stimmlich um.
Die Überraschung des Abends ist aber Klaus Florian Vogt. Ein mittlerweile altgedienter Stolzing, der es aber immer noch drauf hat ohne Abstrich den Walther so zu spielen und vor allem zu singen, dass man da auf keinen Ton verzichten möchte.
Am Ende gab es fein dosiert abgestimmten Jubel für die Protagonisten und ein veritables und nachvollziehbares Bravo- und Buhkonzert für das Inszenierungstrio. Also doch eine richtige Wagnerpremiere.