Sommerliche Musiktage im Elbestädtchen Hitzacker – das verwunschene Kleinod, das einst höchstens wegen des schönsten DDR-Grenzblicks und im vergangenen Jahr mit seiner dramatischen Hochwassersituation Schlagzeilen machte, blüht nun zu Festspielzeiten auf und findet mit neuen Strukturen auch breite überregionale Beachtung. Und das liegt an den geballten Potentialen der neuen hochsensiblen, intelligenten und nachdenklichen Musiker-Generation um die Dreißig, allen voran Intendant Markus Fein. Vor drei Jahren wurde er künstlerischer und organisatorischer Leiter der Musiktage und spielt seither bravourös auf der Klaviatur der visionären Möglichkeiten, die zu Wirklichkeiten werden: Denn viele, die Rang und Namen haben in der jungen Klassik-Szene, tummelten sich in diesem Jahr auf dem „Grünen Hügel der Kammermusik“: Da war der 32-Jährige Matthias Pintscher als Composer in Residence, der als 20-Jähriger den wichtigen Kompositionspreis hier erhalten hatte; sein Werk aus einer bis zum Zerreißen gespannten Stille wurde vom Ensemble Modern und mit dem ganz unverzichtbaren Teodoro Anzelotti am Knopf-Akkordeon unter stringenter Führung der britischen Dirigentin Sian Edwards tief ausgelotet, fand aber in seiner Hermetik nicht immer die ungeteilte Zustimmung des Publikums.
Das Keller-Quartett aus Ungarn gab sein facettenreiches Portrait mit einem weit gespannten Programm von Haydn über Brahms und Tschaikowsky bis zur Uraufführung des Choral-Quartetts von Jörg Widmann, einer auf Haydns „Letzte Worte“ bezogenen tief ausgeloteten Auftragskomposition der Musiktage; Widmann beeindruckte darüber hinaus als glänzender Klarinettist: herausragend seine Brahms- und Kurtág-Interpretationen.
Der international gefragte Bariton Dietrich Henschel dramatisierte im Team mit Pianist Burkhard Kehring einen Schubert-Beethoven-Mahler-Liederabend der Spitzenklasse; die zauberhafte Sopranistin Susanne Rydén und das Ensemble Bell’Arte mit historischen Instrumenten entführten in barocke Welten. Überraschende Entdeckungen waren die exzellente Sopranistin Claudia Barainsky und der phänomenal sensible Kurtág-Schüler Dénes Várjon mit der ganzen pianistischen Bandbreite der Festival-Aufgaben.
Gemeinsam mit den „Nestoren“, dem Pianisten Anatol Ugorski und dem Hilliard-Ensemble waren sie Garanten der Avantgarde auf der Basis von Tradition – die wird in Hitzacker auch weiter liebevoll gepflegt, nach dem Motto: „Ehrfurcht vor dem Erbe, Lust auf Neues“. Im dichten Programm unter dem Motto „Von Traumstädten und Phantasiewelten“ folgte ein Highlight nach dem anderen, alle dramaturgisch bedacht in den weiten thematischen Bogen einkomponiert, ein Kunstwerk für sich. Da hinein passten nahtlos die Rahmenangebote von hochkarätiger Hörerakademie, Festival-Fellows-Programm, Deutsch-Ungarischem Masterclass-Jugend-Projekt und ARD-Preisträgerkonzert. Mehr Jugend in das Festival, dazu mehr gehaltvolle Nahrung für Erklärungshunger und Wissensdurst in abwechslungsreicher didaktisch-methodischer Aufbereitung, das ist unverwechselbare Hitzacker-Handschrift geworden. Nicht ohne Grund wurde ja das Publikum an den ersten beiden Tagen auf „Grand Tour“, auf eine Bildungsreise im Sinne des 18. Jahrhunderts, nach Venedig, Paris und Budapest geschickt.
Mit Erfolg: Die Auslastung lag in diesem Jahr im Schnitt bei 80 Prozent, viele Veranstaltungen und die Hörerakademie waren komplett ausgebucht. Kein Zweifel – die musikalische Reise von Hitzacker aus durch „Traumstädte und Phantasiewelten“ fand im Salonwagen Erster Klasse statt. Angekommen!
Und der Zug für weitere Jahre steht schon unter Dampf: In seiner Festrede zur Eröffnung versprach Niedersachsens Arbeitsminister Walter Hirche in seiner Eigenschaft als derzeit amtierender Ministerpräsident, trotz leerer Kassen für die Zukunft eine Landesförderung in der Größenordnung wie in den vergangenen Jahren bereit zu stellen. „Denn“, so Hirche, „das Musikland Niedersachsen muss auf diese Weise weiter gestärkt werden.“ Sollten hier Traumorte und Phantasiewelten Wirklichkeit werden?