Die „Elektra“ von Richard Strauss und Hugo von Hofmannsthal ist nach wie vor ein Wurf. Ein Operneinzelstück mit besonderer emotionaler Durchschlagskraft. Rache pur in der musikalischen Sprache eines Meisters auf dem Höhepunkt seiner kreativen Kraft. Dazu ein kongeniales Libretto.
Kann gut sein, dass es Strauss selbst unheimlich war, was er da 1909 beim Blick in den Abgrund Mensch entdeckt hatte. Zwei Jahre später folgte jedenfalls nicht etwa eine atonale „Penthesilea“, sondern der „Rosenkavalier.“ Strauss hatte seine eigene, hübsch verzierte Version von „Moderne“ im Gegenlicht von Melancholie anderswo für sich gefunden.
In der neuesten Produktion der Oper Bonn, bei der Dirk Kaftan am Pult des Beethoven Orchesters steht, meint man genau das herauszuhören. Er dirigiert „Elektra“ mit dem Wissen um die Wende zur Opulenz und der flirrenden Leichtigkeit des „Rosenkavalier“ und nicht so sehr als Steigerungsform der „Salome“. Was viel Schaulust mit den Ohren auf sonst Überhörtes einschließt. Dazu passt der vokale Glanz, den diese Elektra und ihre Schwester, aber auch Klytämnestra – gegen jedes Rollenklischee – um sich verbreiten.
Die aus Estland stammende Sopranistin Aile Asszonyi ist eine wunderbar strahlende, abgründig verwirrte Elektra. Nach ihrer Prothoe in Peter Konwitschnys Inszenierung von Othmar Schoecks „Penthesilea“ in Bonn ist diese Rolle eine Konsequenz und geriet zu einem jener Debüt-Glücksfälle, die kleineren Häusern eben auch ab und an gelingen. Dass Manuela Uhl als Chrysothemis überzeugt, war schon durch die Strauss-Affinität in ihrem Rollenverzeichnisses zu erwarten und wurde eingelöst. Sie setzt nicht nur ihre Sehnsucht nach Kindern und einem Weiberleben Elektras Rachefuror höchst überzeugend entgegen. Schließlich überrascht Nicole Piccolomini als eine Klytämnestra, die mit großer Divengeste und elegant attraktiver Erscheinung im goldschimmernden Paillettenkleid auftritt und durchweg auch so singt. Nichts von alter Vettel, die sich nur noch durch die Gänge schleppt. Sie ist eine Frau mit Ehrgeiz und dem Willen zur Macht.
Die Mägde sind solide besetzt, kommen aber nicht immer gegen das Orchester an. Martin Tzonev ist ein markanter Orest und Johannes Mertes der schmierige Möchtegernkönig Aegist. Im Zentrum freilich stehen dir drei Frauen, die auf ganz unterschiedliche Weise mit ihrem Schicksal und ihren Träumen umgehen. Den Racheträumen Elektras lässt die Regie immer wieder den heimkehrenden und zum rächenden Beil greifenden Bruder entsteigen und durchs Bild laufen, dem sie selbst dann jedes Mal folgt.
Bann verwittert opulenter Dekadenz
Der Leipziger Schauspielchef Enrico Lübbe hat schon zweimal Oper inszeniert. Die deutsche Erstaufführung von Manfred Trojahns „Orest“ 2013 in Hannover und 2017 in Erfurt Bergs „Wozzeck“. „Orest“ kommt seinem jüngsten Ausflug auf die Opernbühne thematisch am nächsten. Für seine so opulent psychologisierende wie genau porträtierende Bonner „Elektra“ hat ihm der Schweizer Etienne Pluss eine Bühne gebaut, die auf den ersten Blick in den Bann verwittert opulenter Dekadenz zieht. Er verlegt das exemplarische Rachedrama in ein Palastfoyer mit großer Freitreppe zur Seite hin. Der Raum könnte genauso gut von einem üppigen Theaterbau aus der Zeit inspiriert sein, bevor dort demonstrative Nüchternheit schick wurde. Alles ist leicht lädiert und voller Müllsäcke. Streng uniformierte und sich wie ferngesteuert bewegende Frauen entrümpeln gründlich. Die Müllsäcke häufen sich.
Zwischen diesen haust Elektra. Ihrem wirren Blick nach zu urteilen in ihrer eigenen Welt. Klytämnestra bewohnt offenbar die oberen Etagen. Von hier taucht sie auf. Mit großem Auftritt, als Star im eigenen Haus. Auch sie hat ihre Träume unter denen sie leidet. In ihrem Gespräch mit der verstoßenen Tochter kommt es zu einem merkwürdigen Übersprungeffekt zwischen beiden Traumwelten. Als die Boten Klytämnestra mit der täuschenden Nachricht vom Tode des Orest in Sicherheit wiegen, bricht sie in hysterisches Gelächter aus. Wenn dieses Gelächter dann auf die personifizierten Rachevorstellungen Elektras, jene acht Orest-Wiedergänger, die sichtbar unsichtbar die Szene bevölkern, überspringen, wird der Wahnsinn offensichtlich, ja könnte man fast glauben, all der Geisterspuk wäre eine Inszenierung Klytämnestras. Doch Orest kommt wirklich, das gegenseitige Wiederkennen der Geschwister dauert, und greift mit voller Wucht ans Herz der Zuschauer und besteht damit den Lakmustest für jede „Elektra“-Inszenierung.
Am Ende, wenn Klytämnestra und Aegist tot sind, hat das Personal bereits die Uniformen gewechselt, in einem der Müllsäcke das Prachtgewand der Königin entsorgt, sich auf das neue Regime eingestellt. Dass Elektra bei dieser erneuten Entrümplung gleich mit entsorgt wird, ist konsequent. Sie lebte nur noch für ihre Rache. Ihre beiden Geschwister wirft dieser schale Triumph zu Boden.
Das Bonner Premierenpublikum aber reißt er zu Jubel für alle hin.