Man hätte ja gerne gejubelt. So wie der eine penetrante Claqueur es immer wieder mit seinen Bravo-Zwischenrufen tat. Wobei die immer mehr die Funktion des Wachhaltens übernahmen. Dabei sind gerade die „Trojaner“ das Stück der Stunde. Was Karthagos Königin Dido da über Flucht und Asyl verlauten lässt, klingt wie Kanzlerinnen O-Ton. Und wer über den Hauptbahnhof in Hamburg anreist, könnte meinen, dass hier gerade die flüchtenden Trojaner landen, wie im zweiten Teil jener Grand Opéra, die Berlioz selbst nie komplett auf der Bühne erlebt hat.
Viel weiter will man die Parallele aber nicht denken, denn dieses Großexil eines ganzen Volkes auf der Flucht geht grandios schief. Und der Fluch, den Dido den Trojanern hinterdrein schickt, als sie nach dem ausführlichen Zwischenstopp in ihrem blühenden Land, sich doch in ihr gelobtes Italien aufmachen, klingt wie die Prophezeiung einer welthistorischen Apokalypse. So wie Berlioz in seinem aus der „Aeneis“ von Vergil destillierten Libretto, den Bogen aus der Frühzeit des Abendlandes bis in eine vorhergesagte für uns wahrscheinliche Zukunft schlägt, ist das schon faszinieren.
Irgendwie hätte sich der Regisseur Michael Thalheimer dazu freilich verhalten müssen. Die Hektoliter von Theaterblut, die auf das eindrucksvolle Riesenportal in Olaf Altmanns abstrakt archaischer Mauer platschen, nutzen sich als Coup dann doch bald ab.
Dass es für den neuen Intendanten Georges Delnon und seinen ebenfalls neu bestallten GMD Kent Nagano darum geht, die Hamburger Staatsoper nach den nicht gerade durchgängig funkelnden Jahren unter Simone Young in die erste Liga zurückzuführen, ist sozusagen Punkt eins ihrer Agenda. Da ist es eigentlich eine gute Idee, mit den „Trojanern“ zu beginnen. Das wirkt allemal weltoffener und eine Handbreit risikofreudiger, als es die „Meistersinger“ oder der „Freischütz“ wären. Und dafür einen der renommiertesten Schauspielregisseure wie Michael Thalheimer für ein erneutes Fremdgehen mit der Oper zu verpflichten, ist auch keine schlechte Idee.
Doch die Methode Thalheimer mit ihrer Reduktion und ihrem Zelebrieren hat nur eine begrenzte Reichweite. Bis zu den Trojanern auf der Flucht nach Karthago und dann nach Italien reicht sie nicht. Auch, dass man mit Pascal Dusapin den bedeutendsten lebenden Komponisten Frankreichs für die Strichfassung bemüht hat, bringt nichts. Thalheimer hat eh keinen Humor, und wenn dann auch noch die Szenen mit den Trojanern, die es sich menschlich, allzu menschlich in ihrer neuen Heimat eingerichtet haben und bleiben wollen, streicht, dann bekommt das dem ganzen Unternehmen nicht. Vielmehr lenkt es den Blick auf die Schwächen, die diese Melange aus französischer Eloquenz, Eleganz und Redundanz – in Wagnerlänge eben auch hat. Zudem ist der von Eberhard Friedrich einstudierte Chor, zwar lediglich vom geschlossenen Auf- und Abmarschieren szenisch beansprucht, braucht aber dennoch einigen Anlauf um sich ins musikalische Gesamtgeschehen einzufügen.
Thalheimers Versuch, diese Grand Opéra nicht in die Freiheit erzählter (Welt-)Geschichte zu entlassen, sondern auf ein Psychokammerspiel zwischen die Mauern einer reduzierten Ästhetik zu bannen, wirkt wie eine Gefangennahme, die selbst dem wunderbaren Liebesduett zwischen Dido und Aeneas die Luft zum Atmen nimmt. Trotz funkelnder Sterne und rieselnder Blätter.
Catherine Nagelstad als ungehörte Warnerin und Anstifterin zum Massenselbstmord der eroberten Trojanerfrauen Kassandra und Elena Zhidkova als erst gastfreundliche Königin und dann als vom Geliebten verlassene Frau und vor Rache blinde Dido, verkörpern zwar alles andere als Siegerinnen der Geschichte. Die vokalen Siegerinnen des Abends aber sind sie allemal. Wobei auch Katja Pieweck stimmlich deutlich über ihren gouvernantenhaften Habitus als Anna hinauswächst. Bei den Herren bleibt Torsten Kerl als Aeneas deutlich hinter seinem Potenzial zurück. Da kaufen ihm andere wie Kartal Karagedik als tadelloser Choroebus, Markus Nykänen als Iopas oder Julian Prégardien als Hylas, mit ihren kleineren Partien den Schneid ab. Und auch Kent Nagano braucht wohl noch etwas Zeit, um am Pult des Philharmonischen Staatsorchesters Hamburg zu der Souveränität beim Zusammenhalt von Graben und Bühne zu finden, die bei diesen Trojanern den musikalischen Glanz entfalten könnten, mit dem die Hamburger Oper jene Fahrt wirklich aufnehmen kann, um an die Spitze zurück zu finden.