Tschaikowskis „Pique Dame“ ist im Grunde immer ein tief deprimierendes Stück. Die Fallstudie eines Spielers, der am Ende ist und nur noch auf das Glück des Zufalls hofft, um im allgemeinen Desaster zu überleben und selbst nicht unterzugehen. Stefan Herheim hat im vorigen Jahr in Amsterdam darin gar biografische Züge des wegen seiner Homosexualität von der Gesellschaft bedrängten Komponisten ausgemacht.
Träume vom Glück sind hier in jedem Falle nur ein Abglanz der Erinnerung an eine ferne Zeit. Wenn die Gräfin davon schwärmt, wie sie einst vor der Pompadour, gar dem König aufgetreten ist, dann klingt das selbst in einer historisch auf der Librettovorgabe beharrenden Inszenierung wie eine Erinnerung an sehr ferne Zeiten.
In Stuttgart inszenieren jetzt Jossi Wieler und Sergio Morabito Tschaikowskis „Piqué Dame“ als melancholischen Reflex einer selbst nur imaginierten, kaum noch in Spuren vorhandenen Vergangenheit in einer trostlosen Gegenwart. Sie verlängern gleichsam die Linie vom Dichter der Vorlage Alexander Puschkin (1833) und dann Tschaikowskis Oper (1890) mit lockerer Hand um ein weiteres reichliches Jahrhundert. Mitten in ein postsowjetisch angehauchtes trostloses Ambiente abblätternder Fassaden einer längst untergegangenen und von nachfolgenden Epochen „überschriebenen“ Welt. Hier klingen die Erinnerungen der „Gräfin“ nur noch wie die pure Halluzination einer alten Frau, mit denen niemand mehr etwas anzufangen weiß. Sie hat sich offensichtlich aus der Hinterhoftrostlosigkeit, in der das Vergnügen vor allem aus der Flasche kommt, in einer Seelenwanderung in eine ferne Vergangenheit geflüchtet. Dazu passt, dass ihr Anna Viebrock einen völlig aus der Zeit gefallenen fahrbaren Windfang zubilligt, mit dem sie wie weiland der Adel in der Sänfte durch die Ansammlung von Säufern, Spielern und Schlägern schwebt und auch denen eine andere Wirklichkeit vorgaukelt.
Die Bühne ist ein typischer Viebrock-Raum, bei dem der Anstrich atmosphärisch blättert, das Wasser seine Spuren hinterlassen hat und bei dem außen angebrachte Heizkörper nur in der Logik eines surrealen Außen-Innen-Raums Sinn machen. Das Drehbühnenkonstrukt ist aber auf der Sperrholz-Rückseite, mehr als sonst bei der genialen Raumerfinderin, als Kulisse erkennbar und dennoch in das Spiel einbezogen. Auch bei den Kostüme bleibt sie unbestimmter als sonst – der Kinderchor kommt daher wie die Erwachsen in ihren frühen Jahren. Das könnte alles in Petersburg spielen. Muss es aber nicht zwangsläufig. Vera Nemirova hatte das Geschehen (vor 11 Jahren in Wien) effektvoll ins Milieu einer neureichen Petersburger Schickeria verlegt, die sich im restaurierten Abglanz der Zaren sonnt. Bei Wieler und Morabito sind es die Verlierer der Neuen Zeit, die in ihren Hinterhöfen so tun als ob. Hier versucht eine Lisa (Rebecca von Lipinski spielt sie überzeugend und geht vokal bis an ihre Grenzen) mit einem schicken Katzenmuster-Minni aufzufallen und sich ihren soliden aber grauen Bräutigam Fürst Jeletzki (mit etwas aufgerautem Wohlklang: Shigeo Ishino) schön zu reden. Lässt sich dann aber doch von Germans nur wenig getarnten Machogehabe faszinieren. Der ist nicht nur ihr gegenüber latent gewalttätig – er muss auch allerhand von seinen Spieler- und Saufkumpanen einstecken. Von denen es wenigstens Tomski (Vladislav Sulimsky) zu einem Job im Anzug gebracht hat, von dem man nicht wirklich wissen will, worin der eigentlich besteht.
Als immer kletter-, ein- und ausstiegsflinker German, wirft sich Erin Caves auch vokal vehement in die Heldenbrust unterm T-Shirt dessen Aufdruck wie eine Comic-Variante von Peter dem Großen aussieht. Er trifft jeden Ton mit imponierender Sicherheit und führt das Ensemble an, in dem besonders Stine Marie Fischer als Polina und Yuko Kakuta als Mascha auffallen.
Dass German so weit geht, die Gräfin auch rein körperlich zu bedrängen ist das eine. Bei Helene Schneidermann, bei der die Lebedame von einst auch mal ein laszives Schulterfrei riskiert, hat er mit dem Vergewaltigungsversuch im doppelten Wortsinn schlechte Karten. Die greift selbst (nach dem Motto was soll’s) beherzt zu, übernimmt sich und stirbt. Jedenfalls mal nicht aus Angst. Erbärmlich wie German der Toten den Schmuck abnimmt und sie in ihrem Wundergefährt zusammen mit dem Einkaufswagen samt ihren Utensilien „entsorgt“. Noch erbärmlicher, wie er auftrumpft, als er zumindest mit den ersten beiden Karten, die ihm die Gräfin im Traum verraten hat, gewinnt und sich an jedem einzelnen seiner Peiniger mit einer brutalen Gewaltattacke rächt. Bis ihn der kühl in sich ruhende Fürst Jeletzki gleichsam selbst erledigt.
Die Vorbereitungen für das Theaterstück „Die Lauterkeit der Schäferin“ am Ende des ersten Teils beginnen wie ein Kaufrausch, entpuppen sich dann aber als große Bastelstunde, bei der sich die improvisationserprobten Petersburger ihre Kostüme und Requisiten einfach selbst machen. Um sich dann ausgelassen mit Ironie und Lust am Witz ins Spiel zu stürzen. Hier ist der fabelhafte Stuttgarter Opernchor (Einstudierung: Johannes Knecht) dann in jeder Hinsicht gefordert. Der Aufritt der Zarin ist hier eine Gaudi mit offenherziger Stripperin.
So wird die Geschichte in einem stringenten Kontext zum Psychogramm einer Gesellschaft, der auf der Suche nach ihrer Gegenwart, sogar ihre Vergangenheit abhanden gekommen ist.
Im Graben gelingt es Sylvain Cambreling mit dem Staatsorchester Stuttgart, der Musik den dramatischen und emotional aufbäumenden Drive zu verpassen und die Mozartsche Leichtigkeit einzuflechten, mit der diese Geschichte aus dem alten Russland in eine Gegenwart geholt wird, die auch im grellen Gegenlicht von heute ihre Melancholie nicht verliert. Der Beifall war einmütig. Da hätte es des peinlich übereifrigen Bravo-Dauer-Brüllers in der Königsloge gar nicht bedurft.