aDevantgarde.16 gab sich, tatkräftig ertrotzt im Auf und Ab der Corona-Kalamitäten, mit acht Konzertprogrammen vom 3. bis zum 13. Juni sommerfreudig forsch. Und bewies damit dialektische Stoßenergie gegen die im Motto von den Festivalleitern Markus Lehmann-Horn und Alexander Strauch, dem Vorstand und dem Kuratorium umrissenen und aufgerissenen „Grenzen“.
Der rote Fisch neben dem rotem Stacheldraht auf der grauen und folglich nicht ganz sauberen Holzfläche in den Publikationen sollte nicht zwangsläufig als Luftschnappen der Neuen Musik verstanden werden. Live-Publikum war aufgrund der Hygienebestimmungen nur in ausgewählten Veranstaltungen zugelassen, alle Konzerte sind in digitalen Darreichungen nachhörbar.
Musik ist auch beeinflusst durch die Aufführungsorte, was bei aDevantgarde besonders deutlich wurde. Das alte Schwere Reiter, dessen Tage im Schatten des Neubaus gezählt sind, die Reaktorhalle der TU und das Museum für Abgüsse Klassischer Bildwerke sind aDevantgarde-Schauplätze, die für direkt Anwesende offenherzige Hörerlebnisse in spezifischer Atmosphäre bieten. Das gilt für Werke des früheren Leiters Sandeep Bhagwati im Konzert des Chors des Bayerischen Rundfunks ebenso wie für seinen Dioskuren Moritz Eggert. Nach dem physischen Kommunikationsstau während der Pandemie freuen sich die Veranstalter über die im Netz erreichten Viewer. Die wechselnden Planungsbedingungen vor dem Festival erforderten den mutig und riskant anpackenden Zugriff. Für eine Analyse der neuen Phänomene von digitaler Präsenz und das Risiko von damit einhergehenden Entfremdungstendenzen durch das sich abzeichnende Verschwinden gruppenspezifischer Rituale sind ein wichtiges Thema für später.
Die Atmosphäre war nach dem Druck der letzten Monate erfreulich entspannt. Wenn es die Aufnahmetechnik erforderte, wurden Auftritte wiederholt oder neu arrangiert. Auch das ermöglichte entspanntes Hören und gelassene Konzentrationsbereitschaft. Das physische Direkterlebnis erweist sich trotz selektiver Wahrnehmung, minimaler Aufmerksamkeitsdefizite und – zugegebenermaßen – partiellem Missverständnis wieder einmal stärker als das Streaming.
Emanzipation der Viola
Das gilt sogar für Werke, bei denen Innenspannung und Interpretationen divergieren wie bei „Diaries2Music – Über die Grenzen der Zeit“. Die Niederschriften persönlicher Befindlichkeiten und die daraus entstehenden Kompositionen von Nélida Béjar, Gordon Kampe, Katharina Schmauder, Fredrik Schwenk und Alexander Strauch zeigen nachdrückliche Subjektivität. Die Baritone Sebastian Myrus und Ansgar Theis geben mehr dramatische Expression, die Sopranistin Verena Maria Schmid hat Scheu vor kräftigem vokalem Zugriff. Möglicherweise eine Sache der Herausforderung: Immer, wenn es um drängenderes Reiben an technischen Zuspielungen oder um Neugier auf herausfordernde Werke geht, sind die Mitwirkenden mit Chuzpe und gesteigerten Adrenalin-Emissionen gleich doppelt so gut. Bei der Einstudierung von Notentexturen und dem interpretierenden Füllen von diesen schien das durch erzwungene Auftrittspausen verursachte Corona-Phlegma noch nicht ganz überwunden.
Was Hans Rotman beim Impuls-Festival 2020 in Sachsen-Anhalt begonnen hatte, setzte aDevantgarde.16 fort: Die Emanzipation der Viola als in der Streicherfamilie am wenigsten beachtetes Instrument. KP Werani begab sich im Schwere Reiter auf Konfrontationskurs zu den elektronischen Geschützen, die er teilweise selbst mit Beinen und Reglern entfesselte. Von den seit 2003 entstandenen Werken ragten jene heraus, in denen Weranis physische Tonproduktion nicht von den elektronischen Supplements überlagert wurde. Alexander Strauch baut in „limiti, stanze e passaggi“ elektronische Tonmauern um den ausschwingenden und aufspringenden Viola-Part. Dieser und der in unterschiedlichen Kombinationen durchrasende Schlagzeug-Abend mit der Klasse von Alexej Gerassimez an der Hochschule für Musik und Theater belegen, was für ein Selbstverständnis aDevantgarde als Kollektiv Komponierender und als Festival artikulieren will: Stränge mit vertrauten Akteuren haben Kontinuität. Die aufgeführten Werke dauern selten über zehn Minuten und propagieren ästhetische Kontrastbreite. Erklärungs- und Verklärungseifer ist selten. „Schlagend / POPulist“, der Percussion-Abend in der Reaktorhalle, zeigte die größte Vielfalt der Festivalausgabe. Markus Lehmann-Horns „Drowning“ zeichnete sich durch besondere Innenspannung aus. Auf der Basis von situativen Aktionsvorgaben war das Bemühen vom perkussionistischen Fokus hin zu melodischen und koloristischen Funktionen der Apparate spürbar. Maksim Liakh, dessen Stück mit der Emoji-Reihung als Titel es im Suchmaschinen-Ranking schwer haben könnte, reflektierte mit zwei Schlagzeugen die Situation des Brexit aus Perspektive der EU.
Wie energetisch, wohlproportioniert und schön Eruptions- und Entspannungslinien wirken können, bewies Samir Odeh-Tamimis „Aufbruch“, entstanden 2008 kurz vor der Finanzkrise in der Fortsetzung der längjährigen Zusammenarbeit mit dem Münchener Kammerorchester. Odeh-Tamimi beantwortet die Frage, ob er Grenzen kreativitätsfördernd halte, mit einem klaren Nein. Jakob Stillmark bezieht sich dagegen im von Bas Wiegers dirigierten Konzert mit Bridget MacRae am Solocello in „Anima mea… Kreise ziehend… mit Heinrich Schütz“ auf den Komponisten aus seiner Heimatregion Ostthüringen. Streichensembles in unterschiedlicher Gewichtung und Proportion von Soli- und Gruppenpositionen erweisen sich auch hier als große Kraft für neue Werke. Zum direkten Thema wurde die Pandemie, als Rupert Huber die Männergruppe des Chors des Bayerischen Rundfunks bei der Uraufführung seines „U+1F637“ mit Gesichtsmasken in Aufstellung brachte.
Kagels „Exotica“
Die Wiederentdeckung von Mauricio Kagels „Exotica“, entstanden für die Olympischen Sommerspiele 1972 in München, ist als von Johannes X. Schachtner eingerichtete Übertragung auf ein alpines Instrumentarium weitaus mehr als eine Hommage, weil Kagel Verstörung in der Partitur verankerte und deshalb generell zur Überprüfung eingeschliffener Kultur- und Lebensmuster auffordert. Mit anderen traten Moritz Eggert und Salome Kammer an die für sie ungewohnten Schlag- und Melodieinstrumente des Alpenraums. Das Vertraute der eigenen Regionalkultur wird also zum Exotikum. Kagels Partitur ist ein Intonations- und Organisationsplan, der professionelle Musiker*innen nach Überwindung von Risiko- und Versagensängsten dazu zwingt, sich mit abenteuernder Verletzlichkeit vor Publikum ungewöhnlichen Herausforderungen zu stellen. Der Applaus in der Black Box nach dieser Stunde war riesig. Das bestätigte nicht nur den intellektuell gefütterten Unterhaltungswert Kagels, sondern auch die künstlerische Angebotsbreite des aDevantgarde-Festivals. Anfang Juli sind die Streaming-Aufzeichnungen auf der Website komplett. Als Konstanten deutlich sind die Elektrifizierung des Instrumentariums und eine Vorliebe für politische oder sehr subjektive Inspirationsquellen. Die Lust auf physische Partisanenbewegungen bei Neuer Musik in Zeiten der (vorerst) abklingenden Pandemie war in diesen elf Tagen groß. Sie machte sich bemerkbar mit zustimmendem, optimistischen und lautem Applaus.