Kopfschütteln bei den skandinavischen Komponisten Chrichan Larson, Ivo Nilsson und Per Mårtensson beim Podiumsgespräch unter dem suggestivfragenden Titel „Neue Musik im Norden – Andere Traditionen, andere Freiheiten?“ am zweiten Tag der „kieler tage für neue musik“. Moderatorin Margarete Zander fragte sie, ob es etwas spezifisch „Nordisches“ in ihrer Musik gäbe, eine skandinavische Tradition, auf die sie sich bezögen oder bauten? Einsilbig eindeutige Antwort: „Nej“ – oder auch „No“, denn die drei sprechen Englisch, eben weil sich diese Komponisten Neuer Musik weniger als Skandinavier denn als (europäische) Weltbürger fühlen.
Im Norden freilich und an die noch nördlicheren Länder traditionell angebunden, nicht nur als Fährhafen nach Oslo und Co., auch kulturell, liegt Kiel. Und so lag es für das Kieler Neue-Musik-Projekt chiffren nahe, seine 4. Biennale nach dem Auslaufen der Förderung durch das bundesweite Netzwerk Neue Musik auf einen internationalen, „ars-baltischen“ Schwerpunkt auszurichten. Sinnvoll zumal, als die „nordish by nature“ in der Neuen Musik einiges geleistet haben und leisten. Schaut man nach der etwas ratlos verlaufenen Podiumsdiskussion auf das folgende Konzert des schwedischen KammarensembleN, kann man durchaus etwas spezifisch „Nordisches“ in der Musik von Mårtensson, Larson, Nilsson, Jon Øivind Ness und Lotta Wennäkoski ausmachen: nämlich einen spielerischen, unorthodoxen Umgang mit dem Avantgarde-Anspruch – oder sollen wir besser sagen -Fluch – der Neuen Musik. Dass man sich dabei zwischen den Polen Programm- versus absolute Musik sehr auf ersteren zubewegt, wenn etwa Wennäkoski in ihrem „Nosztalgiaim“ finnische Melancholie mit ungaresken Puszta-Sehnsüchten mixt oder Nilsson in seinem uraufgeführten „Doppler Wobbler“ allzu deutlich auf kosmologische Paradigmen abzielt, darüber mögen Avantgarde-Puristen die Nase (nicht ganz zu unrecht) rümpfen. Dem breiten Publikum, das chiffren nicht nur mit seinen Biennalen, sondern auch mit zahlreichen instruktiven Konzerten dazwischen gewonnen hat, gefällt es.
Was wollte man mehr? Wäre die Frage nach einer aktuellen Neuen Musik zwischen unbeschwertem Spiel mit außermusikalischen Programmen und weniger publikumswirksamer, aber umso erhellenderer Konzentration auf die Klangforschung nach dem, was Musik im Innersten ausmacht und zusammenhält, nicht so virulent. Wie es die „kieler tage für neue musik“ auch zeigten, beide Pole fanden hier ihre Koordinatensysteme, und das nicht nur bei den „Nordischen“. Beeindruckend etwa, wie Oliver Korte in „rien nul“ zwar auf das gleichnamige Gedicht Samuel Becketts Bezug nimmt, aber dessen „Nichtswärts“ dennoch vor allem im Klang statt dem Programm verortet. Oder wie Günter Steinke in der Uraufführung von „Area II“ durch das Ensemble Aventure Klanggeometrien zwischen Punkt, Linie und Fläche ausmisst.
Am Pol unbeschwerten, um nicht zu sagen bruitistisch wilden Spiels mit den Avantgarden, die Jazz sowie Futur- und Dadaismus einst waren, agiert auch das Quartett SPUNK. Die Ladys wurden ihrem in ihrer norwegischen Heimat angehefteten Label „enfants terribles“ genauso gerecht wie ihrer Namensgeberin Pippi Langstrumpf und deren Fabelwesen „Spunk“. Eine Lehrstunde ungestümen Lärmens als Programm und Prognose, die Neue Musik in ihrer Klangunbedingt- und Ungebundenheit ausloteten.
Solchen Extremismus der aufs Minimale reduzierten und dadurch ins Komplexe transzendierten Form übte Morton Feldman in seinen 1981 komponierten „Triadic memories“. Dass sie, in einer magisch meditativen Stunde gespielt vom Pianisten Elmar Schrammel, bei der Biennale Platz hatten, bewies programmatisches Geschick. Zeigt dieses Werk doch, bis zu welchem äußersten Pol man als Pionier der Klangforschung gehen kann – oder schon mal gegangen ist. Wie das weniger solchem „Absolutismus“ als dem Spielerischen, zuweilen Augenzwinkernden verbunden auch geht, verdeutlichte das ensemble Intégrales multimedial. Sein Konzert changierte zwischen den filmmusikalischen Soundscapes John Luther Adams’ in dessen „Red Arc/Blue Veil“ und zwei Werken, welche die Frage nach dem Kern des Musikalischen an dessen Interpreten stellte: Burkhard Friedrich lässt letztere am Ende seines „musicbox-project“ gänzlich von der Bühne verschwinden, wie Musik als „Muzak“ im Kaufhaus zum bloßen Hintergrundgeräusch ohne Sinn, aber mit viel Zweck verkommt. Friedrich mixt Elemente dieses nur noch melodischen Musikabraums vom Band in die Live-Performance. Wobei man nicht immer weiß, wer hier spielt, der Interpret oder nur (s)ein Lautsprecher. Ein Vexierspiel mit Klang, der zum Geräusch wird. Sounddesigner Alexander Schubert dagegen nimmt in „Weapon of choice“ den Klang lediglich als Anlass für Gesten und Bewegungen der Interpretin, an deren Geigenbogen ein Bewegungssensor Videobilder und Lichteffekte „triggert“. Klang wird zur Bewegung, die wiederum den Klang bewegt.
Klang und Geräusch: auch so zwei „Pole“ der Neuen Musik. Mit nochmal zwei Blicken nach Norden, nämlich zu den Kompositionsschülern der Lübecker und der Kopenhagener Musikhochschule, schließt die Biennale sinnfällig in einer Matinee „Junge Musik“. Auch die Blutjungen, Geburtsjahr 1990, arbeiten sich an Polarem ab. Während Vera K. Schmidt in ihrem „lichtgrau“ das gute alte Klaviertrio auf eine Klangfarbigkeit verpflichtet, die wie ein „Zurück in die Zukunft“ anmutet, schreibt Thomas Reifner in der Collage „AH-64/TADS“ dem Klang ein geräuschhaftes Requiem – und vice versa: Die bei WikiLeaks veröffentlichten Funk-geräusche aus einem US-Kampfhubschrauber, der ein „Target“ in Bagdad angreift, verfremdet und verdichtet er zu einem Klanggebilde, das die Frage nach Programm- versus absolute Musik insofern klärt, als seine Musik in den Diskurs gesellschaftlicher Pole-Positions eingreift. Und was, wenn nicht das, sollte man von einer fortschrittlichen Kunst wie der Neuen Musik erwarten?