1964 kam Alvin Curran im DAAD-Austauschprogramm zum ersten Mal nach Berlin. Nun hat er hier am Ende eines einmonatigen Aufenthalts im Rahmen des Festivals Mikromusik ein einziges Solokonzert gegeben. Musikalisch bleibt sich der Pionier live-elektronischer und genregebundener improvisierter Musik treu. Interessant ist auch, ihn aus einer bald sechzigjährigen Perspektive erzählen zu hören.
Eigentlich war Curran, 1964 und 1986 DAAD-Stipendiat, diesmal zu Gast des Künstlerprogramms in Berlin, um mit Achim Freyer ein Musiktheaterprojekt zu E.T.A. Hoffmanns „Der goldene Topf“ vorzubereiten, das im kommenden Jahr im Mai in Stuttgart uraufgeführt werden soll. Aber wie könnte das Mikromusik-Festival just am Ende seines Aufenthalts ohne ihn stattfinden? Unten in der DAAD-Galerie, die im Vorjahr in die Oranienstraße in Kreuzberg umgezogen ist, war eine schöne, an die Welt der bolivianischen Aymara anknüpfende Klanginstallation von Carlos Gutiérrez Quiroga zu sehen. Und darüber war der Raum, obwohl das Konzert nicht allzu prominent, mit dem Hinweis auf begrenzte Kapazität angekündigt worden war, schon zum Vorgespräch weitgehend voll. Und doch musste auch zum Konzert keiner draußen bleiben.
Unwissentlich ein Agent des Kalten Krieges
Nahezu unwirklich erschien, was der heute fast Achtzigjährige von seinem ersten Berlin-Aufenthalt zu erzählen hatte. Westberlin war damals nur eine Insel ja die Mauer war erst seit zwei Jahren fertiggestellt! Curran erinnerte daran, dass das DAAD-Austauschprogramm ursprünglich von der Ford Foundation ins Leben gerufen worden war, ganz im Sinne der CIA, die Kunst als Aushängeschild der „Freien Welt“ förderte, gern auch in Grenzgebieten zum Warschauer Pakt. Unwissentlich sei er also ein Agent des Kalten Krieges gewesen. Nun aber werde er mit Musica Elettronica Viva (MEV), dem Pionierensemble der Live-Elektronik, in Moskau auftreten: für Putin statt Trump. Mit Frederic Rzewski war er bereits als DAAD-Stipendiat in Berlin zusammengetroffen, in das beide auf Empfehlung seines Lehrers Elliott Carter aufgenommen worden waren, bevor sie zusammen in Rom das Ensemble gründeten.
Curran beginnt im Vorraum hinter der Bühne und noch weiter hinten, im Treppenhaus. Durch die offene Tür ist er zu sehen und zu hören, wie er, mit langen Pausen, während er sich von einer Stelle zur anderen bewegt, in den Schofar bläst. In der jüdischen Religion erinnert der Klang des Horns, gefertigt aus dem Horn der Kudu-Antilope, an die Beinahe-Opferung Isaaks durch Abraham, ähnlich wie das islamische Opferfest, das als wichtigstes Festereignis im muslimischen Kalender drei Tage nach dem Konzert beginnt. Das Instrument bleibt begrenzt auf die Naturtonreihe. Doch der Klang ist zumindest bei Curran bisweilen scharf, oberton- und nuancenreich bis hin zu einem freejazzartigen Growl beim schnellen Wechsel zwischen höheren Partialtönen der Reihe. Mit den Fanfarenstöße durchmisst er akustisch die Räume, bevor er hinter seinem Midi-Keyboard Platz nimmt und die Klänge, transponiert und geschichtet, zu einem vielstimmigen, infernalischen Jaulen aufhäuft, das den Saal von allen vier Ecken einhüllt, hin und wieder auch mit krachenden Störgeräuschen durchsetzt.
Recherche nach ungewöhnlichen Klängen
Den Minimalisten steht Curran insofern nahe, als sich manchmal lange Zeit scheinbar nur wenig bewegt. Dann aber setzt das Getöse urplötzlich aus, um zwei sehr transparenten Klavierklängen in mittlerer Lage Platz zu machen. Was der Komponist an diesem Abend spielt, ist nach eigener Auskunft frei improvisiert und, vom Anfang abgesehen, nicht vorher geplant. Gleichzeitig beruht, was auf dem Schofar, an Aufzeichnungen und am Konzertflügel zu hören ist, auf einem über Jahrzehnte hinweg angelegten Archiv an Field Recordings und eigenen Kompositionen. Was Curran mit anderen Improvisatoren verbindet, ist die Recherche nach ungewöhnlichen Klängen und der Einsatz der Sampling-Technik. Eine ganz einzigartige kompositorische Handschrift zeigt sich gleichwohl, auch wenn nichts notiert ist, in der feinen Balance zwischen elektronischen und Instrumentalklängen, Tonalität ohne Festlegung auf eine Tonart, lärmender Komplexität und schlichter Schönheit.
Als er mit „Era ora“ nun ganz zum Klavierspiel übergeht, klingt es von den Harmonien her fast wie ein Jazz-Standard. Nebenbei aber tremoliert er auf einem Ton, den er sodann nach Art der Minimalisten, aber doch frei, improvisatorisch um weitere Töne und Akkorde ergänzt, bis sich das Ganze schließlich zu einem immer engeren, flirrenden Geflecht verdichtet. Der Titel selbst ist eine Paradoxie, denn er versetzt das auffordernde, ganz auf die Gegenwart bezogene „È ora“ – es ist Zeit! – in die Vergangenheit. Anklänge an Bekanntes bleiben auch unter den Samples in der Regel so kurz, dass sie sich nicht verfestigen, sondern nur eine Ahnung aufblitzen lassen. Man hört etwa dass es sich um russische Sprache handelt, ohne indes etwas zu verstehen. Bis an einer Stelle auf einmal wie freigestellt die Worte „Urgrund der Kunst“ hervorklingen.
Das Konzert dauert lang, runde anderthalb Stunden am Stück. Mehrfach scheint es sich harmonisch zu runden, doch Curran, der mit Musica Elettronica Viva zu früheren Zeiten auch nächtelange Konzerte gegeben hat, ist noch nicht am Ende, auch nicht als sardische Obertongesänge auf einen erdigen Grund zurückzuführen scheinen. Offenbar rundet es sich für Curran erst mit dem erneuten Einsetzen der Fanfarenstöße des Schofar. Nicht nur das Publikum ist begeistert, auch er selbst scheint beseligt, und die Zahl derjenigen, die ihn grüßen und sprechen wollen, will gar kein Ende mehr nehmen.