Endlich konnte die jazzahead! in Bremen wieder mit Publikumsverkehr stattfinden, nach einem Totalausfall und einer Stream-Ausgabe. Jenes Klassentreffen der Branche, das sich nach kleinen Anfängen vom Jahr 2006 an mittlerweile zur weltweit größten und wichtigsten Fachmesse des Jazz entwickelt hat – auch, weil „Mitbewerber“ wie die MIDEM oder die Popkomm sich nach und nach vom Jazz verabschiedeten. Betrachtet man nur die Zahlen, ist die Corona-Delle beträchtlich: 2019 waren es noch 3.400 Fachteilnehmer und Aussteller aus 64 Ländern gewesen, heuer waren sogar mehr angekündigt, aber am Ende nur 2.700 aus 44 Nationen da.
Allerdings war die Messe auch diesmal noch hybrid, man konnte also auch online allen Konzerten sowie den wichtigsten Panels und Veranstaltungen folgen. Besonders am Starttag, erstmals einem Donnerstag, reisten lange nicht alle Angemeldeten an. Dazu kamen die erwartbaren kurzfristigen Absagen wegen Covid-Infektionen, der anhaltenden Angst davor oder Anreise-Problemen, nicht zuletzt wegen des Ukraine-Kriegs. Auffällig war zudem, wie wenige Musiker da waren, abgesehen von denen, die sich in Konzerten präsentieren durften.
So war die Stimmung zwiespältig, zwischen anhaltendem Krisenmodus und Aufbruch. Ganz wie in der Halle die meisten nach dem ersten Abtasten auf die Maske verzichteten, viele sie aber bei vollgepackten Showcase-Konzerten etwa im Schlachthof doch lieber wieder hervorholten. Schwer zu beurteilen, wie gut die Geschäfte liefen oder wie viele Veranstalter sich bei den Showcases bedienten, die früher für etliche Bands ein echtes Sprungbrett waren. Gesprochen wurde jedenfalls mehr denn je, an vielen Label- und Länderständen konnten sich deren Repräsentanten kaum zum Essen loseisen. Rein musikalisch war es ohnehin, als hätte jemand für zwei Jahre nur mal eben die Pausentaste gedrückt: Packend und gehaltvoll wie eh und je waren die meisten der vierzig, zwei Jahre lang verschobenen Showcase-Präsentationen. Und oft genug überraschend, selbst wenn viele Namen, vom Flamenco-Jazzer Daniel Garcia über den inzwischen mit mehreren Nachwuchspreisen bedachten Vincent Meissner bis zum frisch gebackenen Deutschen Jazzpreisträger Magro, inzwischen nicht mehr so neu sind wie noch vor zwei Jahren.
Zu entdecken gab es bei den auf Thementage verteilten Acts immer noch einiges: Bei der abschließenden „Overseas Night“ etwa die allesamt überzeugenden Brasilianer Chico Pinheiro, Quartabe und Caixa Cubo, auch wenn im Abschlusskonzert die US-Saxophonistin Melissa Aldana etwas im Konventionellen stecken blieb. Zuvor bei der „German Jazz Expo“ hatten Junge wie Keno Harrierhausen oder Kira Linns Linntett ebenso starke Auftritte wie bewährte Kräfte, darunter das Fuchsthone Orchestra oder Schlagzeuger Jens Düppe mit ihren neuesten Projekten. Im wie immer zahlenmäßig am stärksten besetzten „European Jazz Meeting“ durfte man wieder die enorme Bandbreite und kreative Wucht des europäischen Jazz bewundern, ob beim grandiosen schottischen Pianisten Fergus McCready, dem jungen, auf den Spuren Nik Bärtschs und Andreas Schaerers wandelnden Schweizer Quintett Ikarus oder beim einzigartigen französischen Gitarren-Mundharmonika-Quartett von Antoine Boyer und Yeore Kim. In Summe nicht ganz heran kamen da die Vertreter des Gastlandes Kanada.
Ein gutes Stichwort: Die diversen Präsentationen von Gastgeberland Deutschland und Gastland Kanada im Fachprogramm machten Gemeinsamkeiten und Unterschiede ihrer Jazzszenen sehr deutlich, pars pro toto sogar die vieler anderer. Hier wie dort bilden das Fundament des Jazz heute die Bildungsprogramme an Schulen und Universitäten; es gibt fast keinen professionellen Jazzmusiker mehr, der nicht auf der Musikhochschule oder am Konservatorium war. Abgesehen vom stärkeren Eigenleben der kanadischen Hot Spots wegen der enormen räumlichen Distanzen definieren sich die regionalen Szenen darüber, zunehmend im nationalen wie internationalen Austausch. Auch bei der Zahl und Güte von Musikern, Musik und selbst dem strukturkriselnden Unterbau von Labels, Vertrieben und Promotern nehmen sich beide nicht viel. Was in Kanada anders ist, ist das Publikumsinteresse. Dafür muss man nicht erst auf die Zuschauerzahlen beim weltgrößten Jazzfestival in Montreal im Vergleich zur Resonanz der gut 100 Bremer Konzerte – mit dem Gala-Abend, den Zirkuszelt-Gigs auf der Bürgerweide, der Club-Night in diversen Bremer Spielstätten und den ebenfalls öffentlichen Showcase-Konzerten – schauen. Noch wiegt eine weltgrößte Fachmesse die den Jazz hemmenden strukturellen Defizite Deutschlands beim Musikunterricht, der Medienpräsenz oder der Exportförderung nicht auf. Die jazzahead! steuert seit einiger Zeit dagegen, indem sie mit einem Musikvermittlungskongress beginnt, heuer unter anderem mit einem siebenstündigen Workshop- und Diskussionsprogramm „Improvisation & Jazz for kids“.
Dass der Zuspruch zur jazzahead! selbst wieder wachsen wird, dafür spricht einiges: Zumindest im nächsten Jahr bleibt die Messe mit der Verleihung der Deutschen Jazzpreise im Bremer Metropoltheater einen Tag vorher gekoppelt. Diesen Synergieeffekt spürten einst schon Echo Jazz und Elbjazz Festival in Hamburg, die Bremer Show war nun so straff und attraktiv wie nie. Außerdem wird im kommenden Jahr das Gastland, man höre und staune, Deutschland sein. „Das Prinzip des Partnerlandes besteht darin, ein Land stärker in den internationalen Fokus zu rücken, von dem wir denken, dass es das verdient hat – und das ist im Falle von Deutschland überfällig“, sagt Projektleiterin Sybille Kornitschky.
Die vier Programmlinien der Showcases bleiben bestehen, allerdings wird es im deutschen Teil Ko-Produktionen mit vier anderen Ländern – Frankreich, Österreich, die Niederlande und die USA – geben, um die Internationalität weiterhin zu betonen. Vier deutsche Jazz-Persönlichkeiten, die in diesen Ländern gut vernetzt sind, bauen dafür eigene Formationen auf. Hoffnung macht zu guter Letzt eine Beobachtung des Londoner Journalisten Sebastian Scotney: „Mir ist aufgefallen, dass das Durchschnittsalter der jazzahead!-Teilnehmer heuer deutlich gesunken ist.“