Die Musikfestspiele in Aix-en-Provence warteten in diesem Jahr mit einer gewichtigen Novität auf: Der Komponist Peter Eötvös präsentierte seine neueste Oper „Le Balcon“, nach dem gleichnamigen Theaterstück Jean Genets. Seit dem großen Erfolg seiner Oper „Drei Schwestern“, nach Tschechows Drama, zählt Eötvös zu den gefragtesten Komponisten für das Musiktheater. Ob „Le Balcon“ die gleiche Aufmerksamkeit wie die „Trois Soeurs“ erringen wird, muss abgewartet werden. Die Urteile für „Le Balcon“ fielen äußerst gegensätzlich aus.
Die Musikfestspiele in Aix-en-Provence warteten in diesem Jahr mit einer gewichtigen Novität auf: Der Komponist Peter Eötvös präsentierte seine neueste Oper „Le Balcon“, nach dem gleichnamigen Theaterstück Jean Genets. Seit dem großen Erfolg seiner Oper „Drei Schwestern“, nach Tschechows Drama, zählt Eötvös zu den gefragtesten Komponisten für das Musiktheater. Ob „Le Balcon“ die gleiche Aufmerksamkeit wie die „Trois Soeurs“ erringen wird, muss abgewartet werden. Die Urteile für „Le Balcon“ fielen äußerst gegensätzlich aus. Opern-Uraufführungen in Aix blieben in der Vergangenheit eher peripher und auf Petitessen beschränkt. Insofern bedeutet die Eötvös-Premiere also einen Neubeginn. Wie in der Formel Eins standen am Beginn der Arbeit einige Bedingungen: Die neue Oper sollte einen französischen Stoff in der Landessprache behandeln, die Oper war in der instrumentalen Ausführung auf die Möglichkeiten des Ensemble Intercontemporain abzustellen, der Ort der Premiere stand ebenfalls fest: die Festspiele in Aix-en-Provence. Die Aufführung sollte so gestaltet sein, dass sie anschließend auch auf Reisen zu anderen Bühnen gehen kann.Nach etlichen Lesungen von allen möglichen Texten und Vorlagen geriet Jean Genets Theaterstück „Le Balcon“ in die engere Auswahl und wurde schließlich von Peter Eötvös als „ideale“ Vorlage angenommen.
Was mag den Komponisten an Genets 1955 erschienenem Stück gereizt haben? Vielleicht das Spannungsverhältnis zwischen der Realität einer bürgerlichen Gesellschaft und deren Illusionen. Genet sah das durch eine surrealistische Brille, als eine Art absurden Theaters, das damals besonders in Mode war. Als geeigneter Ort für diese Begegnung zwischen Wirklichkeit und Illusion erschien Genet das Bordell: „Großer Balkon“ heißt das Etablissement der Madame Irma. Von einer Edelprostituierten zur Firmenchefin avanciert, schätzt sie es, in ihrem „Haus“ die Spitzen der Gesellschaft zu empfangen – den Bischof, den Richter, den General sowie den über allen stehenden Polizeichef. Deren Auftritte im Bordell dienen allerdings weniger ihren sexuellen Bedürfnissen, sie spielen vielmehr Rollen durch, ihre Rollen. Sie entwerfen Bilder, in denen sie sich überhöht widerspiegeln, und um nicht vollends den Boden unter den Füßen zu verlieren, lassen sie sich von den Liebesdienerinnen der Madame Irma erniedrigen. Der Realität im „Haus der Illusionen“ enthoben, bemerken sie auch nicht mehr, daß sich außen eine Revolution zusammenbraut. Gewehrsalven und das Geschrei der Menge tönen herein. Schließlich folgt, ähnlich wie in der „Dreigroschenoper“, die absurde Überhöhung: Ein Bote meldet den Tod der Königin, Madame Irma wird selbst zur Regentin gewählt und beruft ihre Klientel in die Regierung. Eine Angestellte von Madame hat inzwischen ein eigenes Bordell eröffnet. Das Spiel beginnt von vorn und bedeutet soviel wie „Die Welt ist ein einziger großer Puff“.
Das Bordell als Welttheater. Warum nicht? Ganz abwegig erscheint der Einfall nicht. Man braucht nur die täglichen Nachrichten zu hören und die bunten Blätter zu lesen. Genets Text, liest man ihn wieder, wirkt zwar schon recht altbacken und ein wenig ranzig schmeckend. Dennoch kann man in der retrospektiven Lektüre etwas Konkretes erfahren: Warum zehn Jahre später in Paris und dann auch bei uns in Deutschland die Studenten gegen diese groteske Panoptikumssozietät rebellierten. Eben darum: Weil die Gesellschaft den Bezug zu Realität verloren hatte, sich in eitler Selbstbespiegelung für die allerbeste, allergrößte, aller erfolgreichste hielt. Peter Eötvös hat als junger Mann und Musiker die 68er Revolution unmittelbar erfahren, erkannte wohl in Genets Panoptikum deshalb auch die Zustände und Figuren, die zu der Rebellion geführt haben.
Heute ist das wohl nur noch als Kabarett zu goutieren. Und so nähert sich Eötvös denn auch seiner „gewählten“ Vorlage, die Françoise Morvan so kürzte und bearbeitete, dass aus dem weitschweifigen Drama ein funktionales Opernbuch entstand. Von einer neuen Literaturoper zu sprechen, wäre indes verfehlt. Schon bei Genet wird die narrative Kontinuität durch Absurdität aus den Gesetzen einer linearen Erzählstruktur gerissen. Eötvös‘ Hinwendung zu dem Stoff darf deshalb vor allem musikalische Gründe gehabt haben: Das Stationen-Stück gestattet es dem Komponisten, sich gleichsam punktuell mit seiner Musik in die jeweilige szenische Situation „einzumischen“. Was wird da alles vom Ensemble Intercontemporain der Szene zugespielt: Big-Band-Sound, Jazzoides, Weill-Rhythmik, Liebesduett-Lyrik aus der Opernkiste, instrumentales Theater, für das Musiker auf die Bühne treten. Auch Schönbergs Sprechgesang findet seinen Platz, Schlagzeugbesen streichen zärtlich-melodisch über Becken, Zitate kommen von Bizet, Messiaen, Chanson-Schmeicheleien von Montand und Jacques Brel. Die Menschen auf der Bühne erhalten die Musik, die sie verdienen: als Versatzstücke einer musikalischen Realität, die mit einer gesellschaftlichen Zerstückelung korrespondiert. Wer kann denn überhaupt noch in größeren Zusammenhängen und Zeitspannungen denken und fühlen? Eötvös‘ Oper bildet also auch und vor allem unsere Wirklichkeit ab – was, wie wir wissen, nicht unbedingt nur Erfreuliches bedeutet. Dass Eötvös diese „Standpauke“ mit freundlich scheinender Ironie vorträgt, sollte einen nicht über den Ernst der Lage hinwegtäuschen.
Bedauerlicherweise ließ sich in Aix der Regisseur Stanislas Nordey wohl über diesen versteckten Ernst täuschen: Seine Inszenierung strotzte vor Harmlosigkeit. Gewiss, sie war lustig, heiter gestimmt, parodistisch, bunt, komisch, grotesk, theatralisch, aber von allem nur so viel, dass nichts Durchschlagendes dabei herauskam. Eötvös‘ Musik darf einen nicht täuschen: ihre Eleganz und einschmeichelnde Sinnlichkeit ist nichts als Ironie. Die Szene müßte dazu das ergrimmte Schreckensbild einer derangierten Sozietät entwerfen. Eine neue, andere Inszenierung ist erwünscht.
In Aix überzeugte vorerst nur die musikalische Realisation. Perfekt das Ensemble Intercontemporain unter der Leitung des Komponisten. Instrumentale Feinarbeit von höchstem Schliff, präzis bis in die letzte komponierte Geste, klanglich von erster Qualität. Das Ensemble mag sich mit einem kollektiven Lob zufrieden geben: Das Engagement für die neuen Figuren auf der Opernbühne war überall bewundernswert spürbar. Für das intellektuelle Profil des „Festival d’Aix-en-Provence“ war die Uraufführung ungemein wichtig.