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Taiseer Elias (Ud) und Zohar Fresco (Daf). Foto: Tiago de Oliveira Pinto

Taiseer Elias (Ud) und Zohar Fresco (Daf), beide aus Israel, bei der Probe von „Compassion“ mit Iván Fischer und dem Budapest Festival Orchestra im Concertgebouw, Amsterdam. Foto: Tiago de Oliveira Pinto

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Aus Liebe: Bachs Matthäus-Passion als globale Versöhnung

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Iván Fischer und das Budapest Festival Orchestra mit „Compassion“
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Als „Compassion“ (Kompasszió) hat Iván Fischer, Gründer und Chefdirigent des Budapest Festival Orchestra, sein Konzertprojekt zur Karwoche 2024 betitelt. Dabei knüpfte er im wörtlichen Sinne an „Passion“ an, mit Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ von 1727. Mit „Compassion“ soll über die Leiden Christi hinaus auch an die Opfer von Krieg und Gewalt in unserer Zeit aufmerksam machen. 

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Dazu setzte Iván Fischer Johann Sebastian Bachs „Matthäus-Passion“ in Beziehung zu Musik aus verschiedenen Kulturräumen. Fischer versteht das Konzertprojekt als „Matthäus-Passion und weitere Passionsgeschichten.“ Einzelne Teile einer gekürzten Fassung von Bachs Passionswerk wechselten sich dabei mit Musik ab, die im klassischen Konzertrepertoire selten zu Gehör kommt: Musik der arabischen Laute Ud und der vorderorientalischen Rahmentrommel Daf, Raga-Improvisationen auf der indischen Sitar (gespielt von Roopa Panesar) und mit einem hebräischen Klagelied auf der Solovioline. 

Musik kann, so die Überzeugung Iván Fischers, die Zuversicht auf Auswege aus den kriegerischen Konflikten unserer Tage stärken. Musik fördert Empathie und Mitgefühl, ohne die ein Sich-hinein-versetzen in die Perspektive des Anderen unerreicht bleibt. Indem Bachs „Matthäus-Passion“ das Leiden eines Einzelnen thematisiert, lässt sich dieses musikalisch ausgedrückte Mitgefühl auch auf andere Menschen übertragen. 

Iván Fischer hat das Konzert nicht nur geleitet, er führte auch Regie. In der Premiere im Amsterdamer Concertgebouw war ein beeindruckender Effekt der szenischen Arbeit von Iván Fischer in Teil 2 der „Matthäus-Passion“ mit der unvermittelten Präsenz der Geigerin Janine Jansen auf der Bühne zu erleben. Sie trat nicht auf, sondern erschien mitten aus dem Orches­ter. Das Instrumentalsolo zur Arie „Erbarme Dich“, das sie spielte, drang in wunderbar warmem Ton in den Raum, im Austausch mit der Mezzosopranistin Olivia Vermeulen. Mit dem Ausklang von „Erbarme Dich“ war die Geigerin wieder verschwunden. Janine Jansens Spiel hob jene Arie heraus, die das Motto des Konzertprojekts liefert: „Erbarmen“, die Übersetzung von „Compassion.“ „Erbarme Dich“ spricht nun alle an, denen es um die Verständigung in der Welt geht. Damit war auch die wesentliche Botschaft, die Iván Fischer mit seiner Geschichte der „Matthäus-Passion“ vermitteln wollte, deutlich gesagt. 

Für eine Brücke in die Gegenwart erklang Maurice Ravels „Kaddisch“, das hebräische Totenklagelied aus „Deux mélodies hébraïques“ (1914). „Kaddisch“ schloss sich dem Passionstext von Jesus an: „Ihr seid ausgegangen als zu einem Mörder, mit Schwertern und mit Stangen, mich zu fangen.“ Das unbegleitete Violinspiel von Konzertmeister Daniel Bard vermochte es, den schlichten modal gefärbten melodischen Verläufen des Klagelieds subtile Klangdetails zu entlocken, mit denen ein schmerzgeladenes musikalisches Gedenken an jene Menschen erfolgte, die dem grausamen Mordüberfall am 7.10.2023 in Israel zum Opfer gefallen sind. Mit dem Choral „O Mensch, bewein dein’ Sünde groß“ fand dann die Musik Bachs wieder Anschluss an dieses Violinsolo.

Nach dem von Hanno Müller-Brachmann (Bass-Bariton) dramatisch vorgetragenen Wortwechsel zwischen Judas „Bin ich’s, Rabbi?“ und Jesus „Du sagests.“, setzte sich der Austausch mit anderen Musikkulturen mit einem Solo auf der arabischen Laute Ud fort, gespielt von Taiseer Elias, Musikprofessor und Musikwissenschaftler in Haifa. Deutlich entfaltete sich die musikalische Syntax der einzelnen Phrasen im improvisierten Lautenspiel des Meis­ters und wird selbst wem diese Musik nicht vertraut ist nachvollziehbar. Zwar treten die Tonstufen des Modus, der Maqam, in offenen Widerspruch zum temperierten Tonsystem bei Bach, im Konzertsaal lassen die verengten Halbtöne und der Bordunbezug jedoch atmosphärisch eine Ahnung der vorderorientalischen Welt aufkommen, in die Bachs Passionsgeschichte hinein gehört. Zugleich hallt in diesen Klängen die lebendige Geschichte Palästinas wider. 

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Taiseer Elias (Ud) und Zohar Fresco (Daf). Foto: Tiago de Oliveira Pinto

Taiseer Elias (Ud) und Zohar Fresco (Daf), beide aus Israel, bei der Probe von „Compassion“ mit Iván Fischer und dem Budapest Festival Orchestra im Concertgebouw, Amsterdam. Foto: Tiago de Oliveira Pinto

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Im Anschluss und gemeinsam mit Zohar Fresco auf der Rahmentrommel Daf, zeigt der Ud-Spieler, dass starke menschliche Bande musikalisch motiviert sein können. Oder auch umgekehrt: intensives und gemeinsames Musizieren bindet Menschen zueinander. Die Musik, die sich hier aus der Hintergrunderinnerung der „Matthäus-Passion“ hervortut ist filigran, sachte, intensiv und berückend, nie laut oder aggressiv. Vor allem lebt sie von der intensiven Zweisamkeit der beiden Musizierenden. 

Was das Publikum unmittelbar erspürte, wurde nach diesem Duo umso deutlicher: die als „Compassion“ erweiterte „Matthäus-Passion“ steht für eine grundsätzlich menschenverbindende Haltung, die ein Zeichen setzt in konfliktbeladenen Zeiten. Mit Musik lässt sich durchaus ein Weg aus dem Konflikt finden. Der Auftritt zweier israelischer Musiker, der eine Palästinenser, der andere Jude, zeigte dies deutlich. 

Dem Passionstext von Christian Friedrich Henrici (alias Picander), dem mit Johann Sebastian Bach befreundeten Dichter aus Leipzig, kam in den vielfältigen Beziehungen von „Compassion“ immer wieder neue Aktualität zu. Die von Anna-Lena Elbert (Sopran) gesungene Arie „Aus Liebe will mein Heiland sterben, von einer Sünde weiß er nichts“ könnte auf die Jetztzeit bezogen die Liebe zum eigenen Lebensraum in Israel anspielen, die verfeindete Gruppen gleichsam jeweils für sich beanspruchen, ein Lebensraum jedoch, der von Beginn an auch für die Gegengruppe hätte anerkannt werden müssen, was aber nicht wirklich geschah. Für Iván Fischer kann sich angesichts dieser Lage nur ein Zukunftsbild durchsetzen, bei dem die verschiedenen Völker friedlich nebeneinander leben. Zumindest musikalisch zeigt sich, dass diese Vorstellung keine Utopie ist.

In zwei kurzen Videos zur Ankündigung der neuen Spielzeit des Orchesters und zu „Compassion“ wirbt Iván Fischer mit klaren Worten für die Musik: „In this time, when the world is crazy around us, we need music. Please come.“ Wenn er das Wort „please“ wiederholt, möchte man heraus hören: PEACE. 

„Compassion“ ist über seine außergewöhnlichen ästhetischen Qualitäten hinaus ein absolut notwendiges Projekt im gegenwärtigen Musikleben. Daran können sich viele ein Beispiel nehmen, denn jede Form von musikalisch vermitteltem Mitgefühl wird dringender benötigt denn je, ist doch das Konfliktpotential in der Welt unvorstellbar groß geworden. Am Ende wird vielleicht doch eine von Musik unterstützte starke Humanität die berechtigte Hoffnung auf eine Zeit schüren, in der die Überwindung von Opfer und Leid tatsächlich gelingt. 

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