Die Oper als Institution wie auch als musikalische Gattung drängt zur Selbstbefragung. Eigentlich dient sie heute schon mehr der repräsentativen Schau und stellt aus innerbetrieblichen Tendenzen heraus Verjüngungsstrukturen per se in Frage. Natürlich reizt dieser Zustand zur schöpferischen Gegenaktion. Kagel tat dies in „Staatstheater“, John Cage in seiner „Europeras“-Folge. Andere Bestrebungen zielten zumindest zur Aufhebung von Handlungsstringenz, zum Verlassen des Guckkasten-Orts. Hans-Joachim Hespos, radikaler Denker von Musik seit gut 40 Jahren, hat nun die Grundstrukturen der großen Oper neu befragt: durch den totalen Rückzug des Komponisten von der Verantwortung für Ablauf und Geschehen. Ziel war, einen offenen Raum zu schaffen, in dem sich andere Kräfte des Betriebes spielerisch frei bewegen sollten. Zur Verfügung gestellt wurde einzig eine Sammlung von Musikstücken mit dem Fokus auf Gesang.
So sieht sie also heute aus, die arme alte Oper. Ihren Inhalt, gar eine Handlung, hat sie längst an der Garderobe abgegeben, mit kleinen Stoff-Resten bedeckt sie notdürftig ihre Blößen. Die Pracht des Bühnenbildes ist dem holzverkleideten Betonplatten-Charme eines Versammlungsraums im real existierenden Sozialismus gewichen, der mehrteilige Deckenleuchter aus Plaste oder Elaste ist inklusive. Die Musiker im Graben haben längst ihren Betrieb eingestellt und sich nach hinten, wohl in die Kantine verdrückt. Der Dirigent war einer der ersten der Fahnenflüchtigen – weil die Ratten zuerst das sinkende Schiff verlassen? Und ganz in der Ecke der Bühne lamentiert ein Mann in der Umarmung einer Frau: eine Wein- und Klagearie von unersättlicher, ja gerade unanständiger Länge des wiederkehrenden, subtil nuancierten und zugleich enervierenden Aufschluchzens.
So endete die Uraufführung der großen (ausdrücklich so benannt!) Oper „iOPAL“ von Hans-Joachim Hespos an der Staatsoper Hannover. Zertrümmert, geschunden, ihrer Wirkungsmechanismen beraubt. Für Hespos aber ist dies ein Gesundheitssymptom. „ja inhaltsschutt, oder wie jemand das nannte: die scheiße im kopf. so etwas interessiert kaum mehr, uns beschäftigen wirkungszusammenhänge. ... literaturoper, handlungsmusical, alte geschichten voller symbolik und staubiger requisite tendieren qualitativ etwa in richtung kultur-heino. heimatlieder vom ewigen gestern.“ Das hat Wucht des Klein- und Niedergeschriebenen, wie wir sie von Hespos kennen.
Leicht hat er es dem Publikum noch nie gemacht. Im zeitgenössischen Musikbetrieb ist er die Verkörperung des Widerspruchs von feinster Hellhörigkeit und Terminator-Mentalität. Seine erste größere Oper „itzo-hux“ war als körperlicher Überfall aufs Publikum konzipiert, in „za’khani“ wurden die Ohren durch den Schalldruck großer, heftig traktierter Stahlplatten geschunden. Sicher ist man sich nie in seinen Aufführungen. Gut, da war etwas, woran man sich reiben konnte, wogegen man Widerstand errichtete. Und Unsicherheit macht wach. Aufs Äußerste gereizt, und reizen möchte Hespos immer, baut der Hörer neue Rezeptionsweisen auf. Die Musik von Hespos ist immer Purgatorium, auch für die Interpreten, die er durch semantische Ketten von Neologismen der neuen Klarheit wie etwa „querduftig“ oder „zereilt“ zur Präzision und äußersten Hingabe des Ausdrucks beziehungsweise der Tongestaltung animiert: Reinigung hin auf neue Wahrnehmung. „hellhörig riskieren wir wache ohren ins akut musikalische wagnis zu einer neu-anderen gegenwart in freiheit.“ (Hespos)
Jetzt anders, aber ebenso schonungslos. Die Oper ist eine leere, schlaffe Hülle. Ihre Wirkungsmechanismen sind längst den Bach hinunter gegangen. Sie ist nur mehr Gestell und dieses wurde zur Aufhängevorrichtung für „iOPAL“. Hespos schrieb zwanzig Partien oder Nummern, viel davon für Solostimme oder Chor, aber auch rein orchestrale Sequenzen sind darunter. Das Realisierungsteam (vor allem der junge, ins Kühne denkende Dirigent Johannes Harneit und Anna Viebrock, für Regie, Bühne und Kostüme verantwortlich) hatte daraus in freier Reihung einen Verlauf zu konzipieren. Die Nummern ließen sich auch zerschlagen und stückchenweise in die Abfolge integrieren. Die freilich ist notwendigerweise absurd, ohne Logik, pendelnd zwischen heraufdämmernden und wieder verschwindenden Welten, die man konventionell als Szenen bezeichnen würde. Ratlosigkeit ist Konzept und Hespos weigerte sich auch konsequent, dem Team Vorgaben über schlüssige oder weniger schlüssige Reihungen zu geben. Hier setzte er ganz unbedingt auf musiktheaterimmanente Arbeitsteilung. Und plötzlich mochte sich die Regie, geworfen in die Freiheit, die sie sich sonst stets zu erobern sucht, allein gelassen fühlen bei der Frage: „Was machen wir eigentlich, wenn wir Musiktheater machen?“
Ging das auf? War es überhaupt etwas, das aufgehen sollte? Unsicherheit jedenfalls wurde zum Prinzip. Die Chorsänger etwa fläzten unbeteiligt und angeödet von den Unannehmlichkeiten des Betriebes auf den Stühlen des Orchesters, das dann mit einer durchs Stück gezogenen Spiegelidee über die Bühne kommend seinen Platz einnahm. Denn die Bühne hatte einen vielleicht zehn Meter breiten Durchgang nach hinten zu einem Raum gleicher Einrichtung. Und hier ließen sich Spiegelimaginationen zelebrieren: Der Geiger vorne spielte mit dem Bogen in der rechten Hand, der parallel auftretende dahinter hatte ihn in der linken. Auch der Chor schloss sich dieser in sich gebrochenen Aufrittsgala an. Und diese Welt von Zwillingen schlich sich immer wieder ins Spiel: zwei unbeteiligte, blondhaarige Alte im Freizeit-Look, zwei blondhaarige spielende Kinder, ein sich am Spiegel streitendes Paar, das sich nichts mehr zu sagen hatte.
Das alles hatte die Trostlosigkeit der inneren Leere. Die Aktionen klapperten in Strindberg-artigem Leerlauf, die Protagonisten auf der Bühne standen sich in der Quere. Und alles nahm den Charakter einer Probensituation an, bei der noch nichts klappt und viele an falschen Plätzen stehen, wovon sie sich freilich nur gezwungenermaßen, also geschoben oder geschleppt, entfernen lassen. Lachen und später dann Schluchzen wirkten wie hilflose Gesten der Anteilnahme am Geschehen beziehungsweise Nicht-Geschehen. Sie setzten allenfalls Ansteckungssequenzen in Gang. Man lachte über das Lachen und weinte über das Weinen. Und immer wieder kehrte man zur Stille zurück, Stille als Leere, als Raum für noch ungenutzte Entfaltungsmöglichkeiten. Stets freilich schob sich subtil komponierte Musik vor allem vokaler Natur dazwischen, die vielleicht als einzige den Standort der Oper behauptete. Doch auch hier knirschte der Betrieb. Der Schreibstil von Hespos hat sich auf dem Notenpapier zur Graphik, zum kalligraphischen Gestus hin entwickelt. Die Idee des frei agierenden Interpreten steht dahinter, die freilich einem Opernhaus kaum zuzumuten ist. So wurde der Job eines Score Managers (Kay Ivo Nováck) installiert, der aus den Vorwürfen von Hespos mensurierte Partien für die Realisation vor Ort erarbeitete. Auch hier also eine Utopie mit Konzessionen.
So blieben viele Fragezeichen. Sie gehörten zum Stück, das sich dennoch anlasten muss, dass sie von der Mehrzahl des immer wieder protestierenden Publikums als Leere, als Nonsens aufgefasst wurde. Es war eine komische Oper im doppelten Sinne des Wortes. Die Komik geht Hand in Hand mit der Situation heutigen Musiktheaters. Es ist eine tragikomische mit Ausblicken (vor allem in Bezug auf die beachtliche Ensembleleistung der Hannoveraner Oper). Hespos hat die Personalunion des komponierenden Individuums, das für das gesamte Geschehen auf der Bühne letztendlich verantwortlich zeichnet, aufgegeben. Er zog sich dorthin zurück, wo sich die Komponisten der Musikgeschichte längst befinden, denn die Regie hat das Zepter übernommen und dominiert über das musikalische Ereignis. Dadurch aber entzog er dem Ablauf auch die Reibefläche, den Frevel, den Tabubruch. Spürbar fühlten sich Musiker, Dirigent und die Regie vom Komponisten allein gelassen. Der Auftrag „Macht was ihr wollt oder wie es euch gefällt“ drohte zu versanden.