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Das Bühnenbild erinnert exakt an Théodore Géricaults Gemälde anlässlich der französischen Marine-Katastrophe 1816.

Henzes „Floß der Medusa“: Der Stoff zerrt an den Seelen des Publikums, der Rhythmus hämmert sich in die Knochen. © Christoph Becher

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Bechers Bilanz – September 2023 – Die Überlebenden taumeln ins Freie

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Saisoneröffnung allerorten. Orchester-Gastspiele aus Amsterdam, Israel, Zürich. Eine spektakuläre Henze-Aufführung in Berlin; der Abschluss der Ruhrtriennale von Barbara Frey; das Beethovenfest in Bonn. Dieser September hatte es in sich. Und auch einen Abschied.

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Bonn: Beethovenfest Eröffnung

Das Geschnitzte und das Gemeißelte

Ein Beethovenfest, das ohne Beethoven beginnt? Intendant Steven Walter setzt in seinem ersten Jahr den Kurs der Vorgängerinnen Ilona Schmiel und Nike Wagner fort, den Namenspatron im Kontext zu denken und dabei ein breites Publikumsspektrum anzusprechen. Walter erweitert die online-Aktivitäten und bettet das Festivalprogramm in gesellschaftliche Diskurse. So enthält das Eröffnungskonzert am 1. September mit dem Tonhalle-Orchester aus Zürich ein Weltverbesserungs-Melodram, dessen Autor, der Schweizer „Spoken Word Artist“ Jürg Halter, selbst auf der Bühne steht. Musik und Text sind von bestürzender Direktheit, die im Beethoven-Kosmos bei „Wellingtons Sieg“ anzusiedeln wäre. Das sehr offizielle Publikum freut sich trotzdem. Der aufrechte Buh-Rufer war hoffentlich im WDR-Mitschnitt verewigt. Anastasia Kobekina, russischer Shootingstar am Violoncello, spielt das Dvořák-Konzert nuanciert und ohne den sonst üblichen auftrumpfenden Gestus, kann sich aber in der spröden Akustik des Bonner Opernhauses nicht durchsetzen. (Im Deutschlandfunk höre ich sie zwei Tage später aus einem Recital in der Kronberg Academy. Kobekina entfaltet in „Sept Pavillons“ für Cello solo von Kaija Saariaho einen unfassbaren Reichtum an Obertönen. Hier scheint die junge Musikerin ganz in ihrem Element.)

In Bonn gerät die Symphonie „Aus der Neuen Welt“ zum Höhepunkt des Abends. Das Werk reihe ich unter die zehn besten Kompositionen des 19. Jahrhunderts, so innig verbinden sich in ihr intelligente Struktur und populäre Melodik. Und besser kann man es nicht spielen als Paavo Järvi mit dem Tonhalle-Orchester: dramatisch, liebevoll, tröstlich, fragend, zweifelnd und übermütig – alles dabei. Järvi liebt die Nuance wie die große Geste, das Geschnitzte wie das Gemeißelte. Wer dieses lange Konzert, dem noch eine DJ-Nacht im Opernhaus anhing, in der Pause ermattet verließ und meinte, auf eine abermalige Begegnung mit Dvořáks Neunter Symphonie verzichten zu können, hat eine Sternstunde versäumt.

 

Bonn: Beethovenfest Abschluss

Christian Tetzlaff mit innigem Schumann

Dreieinhalb Wochen später läutet das Chamber Orchestra of Europe zum Abschluss des Beethovenfestes. Abermals fügt Intendant Steven Walter eine Komposition ein, die auf aktuelle gesellschaftlich relevante Themen Bezug nimmt. Die dem Konzert vorgelagerten „Ten Thousand Birds“ von John Luther Adams aber verlieren sich im Einlassgesummse und werden weder vom Publikum noch von den Orchestermusikern ernst genommen. Vielleicht war das ja der Sinn der Sache. Die Bitte der Oberbürgermeisterin Katja Dörner vor Beginn der zweiten Konzerthälfte um Spenden für das ukrainische Cherson erreicht das Publikum im Bonner Opernhaus am 24. September schon eher. Robin Ticciati dirigiert eine traumhafte „Scène d’amour“ aus Hector Berlioz‘ „Roméo et Juliette“ – deren Farbigkeit im Saal vertrocknet – sowie eine Siebente Symphonie von Beethoven, die vor Energie vibriert. Die Tempi sind flott, die Streicher klingen scharf, wie man das eben heute so macht, aber die Pauke knallt nicht, und das ist schon viel. Die Bonner sind begeistert. Sie sind es auch von Christian Tetzlaff und Robert Schumanns Violinkonzert. Der gebürtige Hamburger punktet vor allem im Lyrischen, ja im Entrückten. Im langsamen Satz Schumanns singt jede einzelne Note, innig und bewusst artikuliert. Für die Standing Ovations bedankt sich Tetzlaff mit einem schwerelosen Bach.

PS: Das Beethoven Orchester Bonn spielte zwar weder das Eröffnungs- noch das Abschlusskonzert, dafür aber im Festival Olivier Messiaens großformatige „Turangalîla-Sinfonie“ unter seinem Chefdirigenten Dirk Kaftan. Womit wir noch einmal bei den Vögeln wären. Das Orchester trägt inzwischen den von einer Unterorganisation der Vereinten Nationen übertragenen Titel „United Nations Climate Change Goodwill Ambassador“. Noch wissen wir nicht, ob diese oder andere Initiativen ein Umdenken im Kulturleben bewirken, aber den Versuch ist es wert. Das Concertgebouw Orkest z. B. (s. u.) reist inzwischen deutlich öfter mit Bahn und Bus als mit Flugzeug.

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Vor blauem Hintergrund sitzen das Orchester und spielt.
Als das Chamber Orchestra of Europe beim Beethovenfest Adams „Ten Thousand Birds“ spielt, wird das Stück sowohl vom Publikum als scheinbar auch vom Orchester nicht ernst genommen. © Christoph Becher.
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Dortmund: Saisoneröffnung im Konzerthaus

Israelischer Auftakt

Zur Saisoneröffnung am 3. September hat Intendant Raphael von Hoensbroech Lahav Shani eingeladen. Der israelische Dirigent kommt im Laufe der Saison mehrmals wieder. Zum Einstand holt er das Israel Philharmonic Orchestra erstmals ins Konzerthaus Dortmund, im Gepäck den „Psalm“ aus der Sinfonie Nr. 1 von Paul Ben-Haim. Dortmunds Oberbürgermeister Thomas Westphal beehrt das Konzerthaus mit einer Ansprache und freut sich, dass ihm der Intendant für heute Abend Musik „zum Schwelgen“ versprochen habe. Das sei ihm gegönnt, obwohl es dem liturgischen Gestus von Ben-Haims Musik nicht gerecht wird. Als deutsche Erstaufführung erklingt ein vom Konzerthaus und den Israeli in Auftrag gegebenes neues Werk von Betty Olivero: „Many waters“ für Sopran (Hila Baggio), Orchester und elektronische Klänge erinnert in seiner Kantigkeit an Xenakis. Die Bandzuspielungen öffnen Assoziationsräume, in denen der Schatten der Sopranistin zu hören ist, auch Chöre, Echos und Gegenklänge. Das Dortmunder Publikum begegnet der israelischen Komponistin neugierig und applaudiert sehr herzlich. Vielleicht trägt schon Früchte, was die aus Dortmund stammende NRW-Kulturministerin Ina Brandes heraushebt: dass sich das Konzerthaus der Stadtbevölkerung öffnet und Angebote formuliert.

Mahlers Erste Symphonie wirkt durchwachsen. Im ersten Satz scheint das Orchester zerstreut, und der Dirigent nimmt die Zügel nicht in die Hand. Die vielen Tempowechsel wackeln, das Scherzo ist derb und unwienerisch. Erst ab dem dritten Satz finden Shani und sein Orchester zusammen, die einzelnen Instrumentengruppen sind behutsam aufeinander abgestimmt, und den Beginn des Marsches vor dem letzten Durchbruch im Finale dirigiert Shani endlich so, dass die Musiker in Schwung kommen. Zwei Zugaben erklatschen sich die begeisterten Dortmunder.

 

Dortmund: Concertgebouw Orkest mit Yuja Wang

Der impressionistischen Schläfrigkeit entronnen

Über Internationalität in der Musik lohnt sich kaum zu sprechen. In Ausbildung und Musikleben begegnen sich wie selbstverständlich Menschen aller Nationen und rackern sich am schmalen Klassikkanon ab. Man darf trotzdem einmal festhalten, welche Kräfte ein französisches Programm freisetzt, dargeboten von einem niederländischen Orchester unter der Leitung eines finnischen Dirigenten, zeitweilig unterstützt durch eine chinesische Solistin. Das Ergebnis am 26. September ist ein Konzert, wie es kaum besser sein kann. Das Concertgebouw Orkest aus Amsterdam gehört zu den ersten Orchestern der Welt, die einzelnen Instrumentengruppen atmen und phrasieren unvorstellbar homogen, die Einzelleistungen der Bläser (unter denen ich die Englischhornistin Miriam Pastor Burgos stellvertretend herausheben möchte) sind atemberaubend. Klaus Mäkelä, trotz seiner jugendlichen 27 Jahre als künftiger Chefdirigent des Orchesters gesetzt, dirigiert federnd, oft tänzerisch und kümmert sich um viele Details, so dass das Dortmunder Konzerthaus einen sehr genauen Debussy zu hören bekommt. Der impressionistischen Schläfrigkeit entronnen klingt hier „La Mer“ eher nach Mahler – mit Auflösungsfeldern, Durchbrüchen, Naturepisoden. Kann man drüber streiten, reißt aber das ausverkaufte Konzerthaus zu Recht aus den Sitzen. Im Kontrast zu Mäkeläs plastischem Debussy der verhauchte Ravel. Yuja Wang spielt beide Klavierkonzerte so traumverloren, wie es sich nur wenige Solistinnen und Solisten leisten können. Die flinke Pianistin steht hoch über allen technischen Schwierigkeiten und erlöst ihren Ravel immer wieder von der Zirkushaftigkeit, zugunsten einer Zärtlichkeit, wie sie selten im Konzertsaal zu erleben ist.

 

Köln: Klavierabend Piotr Anderszewski

Neue Sprachen, angstfrei.

Erfreulich entfernt vom herkömmlichen Pianisten-Repertoire hat sich Piotr Anderszewski in seinem aktuellen Recital, das am 29. September auch in der Kölner Philharmonie gastiert. Im Mittelpunkt stehen eine Auswahl von fünf aus insgesamt 20 Mazurken, die sein polnischer Landsmann Karol Szymanowski im Umfeld der Oper „Król Roger“ geschrieben hat, sowie die 14 Bagatellen von Béla Bartók: beides starke Zyklen, die sich auf wunderbare Weise von der Funktionsharmonik befreien. Da sprechen ein Pole und ein Ungar ganz neue Sprachen, angstfrei zudem, und man spürt, dass sie jederzeit ganz anders (und zur Not auch wie früher) könnten. Anderszewski spielt das zupackend, aber nie martialisch, hingegen oft so nachdenklich, wie es uns Bartók auf seinen Aufnahmen der eigenen Werke vorgemacht hat. Dabei klingen die Bagatellen mal nach Puszta, mal nach frühem Eisler, mal nach Messiaen. Diese Musik sollte man viel öfter hören und vorgespielt bekommen. Mit Anderszewskis Bach fremdel ich hingegen, da gehen im Pedal viele Konturen verloren, auch wenn der Pianist immer wieder neue Perspektiven eröffnet, wenn er Melodien im Bass herausschält. Der Vergleich folgt am 11. Oktober, wenn Vikingur Ólafsson die „Goldberg-Variationen“ in der Kölner Philharmonie interpretiert.

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Berlin: „Das Floß der Medusa“

Naturalistisch: Der französische Marine-Skandal

„Das Floß der Medusa“ von Hans Werner Henze begleitet mich, seit ich es in Frankfurt 1985 zum ersten Mal im Konzert erlebte. Längst hat mich alles ergriffen, was mit diesem Stoff zu tun hat: das monumentale Gemälde von Théodore Géricault, der Roman von Peter Weiss, der von Franzobel, selbst aus der ansonsten hölzernen Krimiserie „Art of Crime“ habe ich mir die Géricault-Folgen angesehen. Henzes Oratorium ist schon dann theatral, wenn man nur den Anweisungen über die Aufstellung der Orchestergruppen und des Chores folgt. Einer Inszenierung bedarf es nicht. Und doch ist die Inszenierung am 16. September im riesigen Hangar1 auf dem ausrangierten Tempelhof in Berlin, einer Ausweich-Spielstätte für die wegen Renovierung geschlossene Komische Oper, schlichtweg grandios. (Vgl. auch die rechts verlinkte nmz-Besprechung von Stefan Drees.) Regisseur Tobias Kratzer, international gerühmt für seinen quirligen „Tannhäuser“ 2019 in Bayreuth und ab 2025 neuer Intendant der Staatsoper Hamburg, setzt auf quälenden Naturalismus im Wasserbecken. Schon beim Einlass erwartet das Publikum das als Still nachgestellte Géricault-Gemälde. Solisten, Kinder und Chor plantschen im Wasser, vergnügt und wohlgemut am Anfang, bald verzweifelt. Am Ende treiben Mitglieder des Bewegungschors im Wasser. Als die Chorsänger das Becken umrunden, in deren Mitte das kleine Floß steht, ahnt man nicht, welche Szene droht: dass alle sich auf dieses Floß zwängen werden und damit jenen grauenvollen Moment sichtbar machen, den man sich durch noch so viel Lektüre kaum ausmalen kann. Am Ende öffnet sich das große Tor des Hangars und die wenigen Überlebenden des Massakers taumeln ins Freie. Den Ho-Ho-Ho-Chi-Minh-Schluss der Musik hat Henze später übermalt, für die frühere 68er-Version gibt es kein Orchestermaterial. Der Rhythmus hämmert sich trotzdem in die Knochen der Zuhörer.

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Spektakuläre Aufführung mit Abstrichen – Die Komische Oper Berlin startet mit Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“ in die neue Spielzeit

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Nachdem die Komische Oper Berlin im vergangenen Jahr mit einer Inszenierung von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in die neue Saison startete, setzt die Intendant:innen-Doppelspitze Susanne Moser und Philip Bröking für die...

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Charon mit einer Frau in Rettungsweste zu besetzen (Idunnu Münch), liegt im Trend der Zeit, weckt hier aber die Assoziation an Carola Rackete, was wiederum gut zum Libretto von Ernst Schnabel passt. (Der Text wäre in seiner Mischung aus 68er-Pathos, stählerner Präzision und lichter Poesie eine eigene Analyse wert.) Die Koloratursopranistin Gloria Rehm (La Mort) und der Bariton Günter Papendell (Jean-Charles) sind für die außerordentlich schweren Partien eine echte Entdeckung. Dirigent Titus Engel erweckt mit viel Leidenschaft das schöne italienische Leuchten wie das harte realistische Vokabular Henzes, das in den kommenden Werken (vor allem in „We come to the river“) seine ganze Rohheit entfalten wird. So setzt die neue Intendanz der Komischen Oper Berlin gleich zu Beginn ihrer Amtszeit einen Punkt, der internationale Beachtung verdient.

 

Bochum: Play Big!

Big Band meets Symphony Orchestra

Nicht einmal eine Woche später, am 21. September, dirigiert abermals Titus Engel in der Bochumer Jahrhunderthalle im Auftrag der Ruhrtriennale ein Programm, das drei große Klangkollektive zusammenspannt: die Basel Sinfonietta, die NDR Bigband und das Chorwerk Ruhr. Nicht nacheinander, nicht bei einem Programmteil, sondern während des ganzen Abends. Den Disponenten der Institutionen (inkl. denen der Komischen Oper) applaudiere ich ausdrücklich, sie sind Helden des Alltags, die meist unbedankt ihr Bestes geben. Da man bei der Ruhrtriennale das klassische Konzertformat für vernachlässigbar hält – was nicht kritisiert werden muss: die Orchester in NRW laden in der Saison wahrlich ausreichend zu hervorragenden Konzerten ein –, wurden drei Werke kombiniert, die Brücken zwischen Jazz und zeitgenössischer Musik schlagen. Kein Third Stream, sondern eine durchweg augenzwinkernde Begegnung. Sofia Gubaidulina ist dabei, mit ihrem untypischsten, weil sehr leichthändigen Stück, der „Revuemusik“, dessen E-Bass-Riff mehr nach Yello klingt als nach der tiefreligiösen Grand Dame. Michael Wertmüller lässt es in der Uraufführung von „Shlimazi“ brötzen (ein halbes Leben lang hat der Schweizer Schlagzeuger mit Peter Brötzmann zusammengearbeitet): Orchester und Big Band entfesseln ein halbstündiges Powerplay, in dem alle 90 Sekunden kollektiv geatmet wird, bevor man sich wieder Kante gibt. Radau, im positiven Sinne. Schließlich zwingt Simon Steen-Andersen Orchester, Big Band, Chor und Video in einem ebenso virtuosen wie kurzweiligen Dauer-Staccato zusammen. Die Bild- und Tonfetzen reagieren auf die Impulse der Live-Musiker oder umgekehrt, wer will das so genau unterscheiden? Gleichzeitig ist „TRIO“ eine Verhonepiepelung des Konzertrituals wie auch eine Hommage an die Geschichte des öffentlich-rechtlichen Rundfunks, aus dessen Archiv die Dokumente stammen. Nach einigem Klamauk von Kleiber, Toscanini und Solti darf dann auch Michael Gielen daran erinnern, dass dieses Werk (unklar, von welchem er spricht, nehmen wir mal an: „Die Soldaten“) so dimensioniert sei, dass es nur vom Rundfunk realisiert werden könne. Allerdings beschlich mich schon bei der Uraufführung des Stücks in Donaueschingen der Verdacht, dass „TRIO“ zu viele Ressourcen bindet, um am Ende nicht viel mehr als einen guten Witz zu erzählen.

 

Köln: Focus Péter Eötvös

Nichts Gebasteltes mehr

In der WDR-Reihe „Musik der Zeit“ steht Péter Eötvös im Mittelpunkt, der im kommenden Jahr seinen 80. Geburtstag feiert, leider aber zum Konzert am 29. September gesundheitsbedingt nicht erscheinen und dirigieren konnte. Für ihn sprang Gergely Madaras ein. Die Neue Musik des WDR feiert mit Eötvös auch ihre eigene Geschichte, denn hier im Funkhaus am Wallrafplatz traf der damals 22-jährige ungarische Musiker auf Karlheinz Stockhausen. Damit begann eine große Komponisten- und Dirigentenkarriere. „Siren’s Song“ (2020) zeigt am Ende des von Michael Struck-Schloen moderierten Konzertes, mit welch sinnlicher Klangfantasie Eötvös in seinen besten Werken aufwartet. Man möchte diese Musik mit ihrer dunklen Tönung und unverbrauchten (und ja: sirenenhaften) Instrumenten-Kombinationen augenblicklich noch einmal hören (und kann es auch: Musik der Zeit 1 - Focus: Péter Eötvös, WDR Sinfonieorchester - WDR 3 Konzert - Sendungen - Programm - WDR 3 - Radio - WDR). Der junge britische Bratschist Timothy Ridout spielt Eötvös‘ Bratschenkonzert und die Musikerinnen und Musiker des WDR Sinfonieorchesters eröffnen mit „Ligetidyll“, einem humorigen, zeitweise schenkelklopfenden Geburtstagsgeschenk an den Landsmann, der in diesem Jahr 100 geworden wäre. Lob gebührt auch der Dramaturgie von Neue-Musik-Redakteur Patrick Hahn, der einen Gruß aus der heroischen Nachkriegsgeschichte der Avantgarde hinzuprogrammierte: wie schön, einmal Karlheinz Stockhausens „Kontra-Punkte“ im Konzert zu hören, ein Klassiker für 10 Instrumente, an dem inzwischen kein Gebasteltes mehr haftet, das man der seriellen Musik so gerne andichtet. Das Ensemble des WDR spielte leicht und sommerlich.

 

Köln: „The Strangers“ von Frank Pesci

Lynchskandal aus New Orleans

Auf der Nebenbühne des Staatenhauses, dem Ausweichquartier für die Dauerbaustelle Kölner Oper, erlebt „The Strangers“ von Frank Pesci am 30. September seine Uraufführung. Die Hoffnung auf die für Beginn der nächsten Spielzeit annoncierte Rückkehr in das Stammhaus ist groß, die auf das weitere Engagement für Novitäten nicht minder. Der amerikanische, in Köln lebende Komponist nimmt die große Begeisterung für seine Kammeroper wie ein Rockstar entgegen. Er greift eine Lynchgeschichte aus dem New Orleans des späten 19. Jahrhunderts auf, wo die amerikanischen Mehrheitsgesellschaft die sizilianischen Einwanderer als Sündenböcke stigmatisiert. Librettist Andrew Altenbach markert die Parallelen zu heutigen Debatten unnötigerweise an. Vor und hinter der Bühne regieren Schnelligkeit und Präzision: Ein Dutzend Sängerinnen und Sänger (herausragend: Emily Hindrichs und Maria Koroleva) müssen sich immer wieder auf neue Kostüme, Rollen und Spielflächen auf den flugs zusammen geschobenen Bühnenelementen rund um das Kammerorchester einstellen. So wird die Geschichte zupackend und hyper-realistisch von Regisseurin Maria Lamont in den historischen Kostümen von Luis F. Carvalho erzählt, leidet aber an den vielen eingeschoben Schmerzensgesängen. Der handfeste Skandal verkrümelt sich in die Privatheit, und Pescis Musik lenkt das alles im Geiste Puccinis, durchwoben von Spirituals, Gospels und Walking-Bässen. Die Kammerbesetzung des Gürzenichorchesters unter der Leitung von Harry Ogg schwelgt in Pescis immer ausgewogener, nie scharfer Klangwelt. Eine Erzähloper, über deren historischen Hintergrund man mehr wissen möchte.

 

Erinnerung an Anton Plate (1950–2023)

Diese Kolumne enthält im Normalfall keine Nachrufe. Doch der Hannoveraner Komponist Anton Plate ist am 8. September zu leise von uns gegangen. Weder in meiner Blase noch in irgendeinem Medium habe ich von seinem Tod erfahren, sondern durch eine SMS seines Freundes Ingo Metzmacher, der viel für Plate getan hat. Plate wurde am 4. Januar 1950 in Hildesheim geboren und studierte in Hannover. In den 80ern fiel mir eine Wergo-CD in die Hände (die es heute noch im Handel gibt), damals nannte man ihn in einem Atemzug mit Manfred Trojahn und Wolfgang Rihm, auch weil sich Plate frei vom strengen Mainstream bewegte und in seinem Vokabular keine Angst vor Neoromantischem kannte. Metzmacher bestellte bei ihm drei Uraufführungen für seine Hamburger Silvesterkonzerte „Who is Afraid of 20th Century Music?“, die später zur sechsteiligen Sinfonie „Libération“ anwuchsen. So habe ich ihn kennen gelernt: als gut gelaunten, zugewandten, verlässlichen Komponisten einer Musik, die vertrautes Terrain nur als Abbild betritt, gleich einer Erinnerung. Der Boden aber, auf dem wir uns bewegen, ist brüchig. Das erste Stück für Hamburg hieß „You must finish your journey alone“. Nun hat Anton Plate seine Reise beendet.

Die Aufnahme von „Libération“ mit Ingo Metzmacher und der NDR Radiophilharmonie steht noch in der Mediathek des NDR: Zum Nachhören: Ingo Metzmacher im Sinfoniekonzert | NDR.de - Orchester und Chor - NDR Radiophilharmonie - Konzerte.

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