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Das Floß der Medusa an der Komischen Oper Berlin, Spielplatz Flughafen Tempelhof. Foto: Jaro Suffner

Das Floß der Medusa an der Komischen Oper Berlin, Spielplatz Flughafen Tempelhof. Foto: Jaro Suffner

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Spektakuläre Aufführung mit Abstrichen – Die Komische Oper Berlin startet mit Hans Werner Henzes „Das Floß der Medusa“ in die neue Spielzeit

Vorspann / Teaser

Nachdem die Komische Oper Berlin im vergangenen Jahr mit einer Inszenierung von Luigi Nonos „Intolleranza 1960“ in die neue Saison startete, setzt die Intendant:innen-Doppelspitze Susanne Moser und Philip Bröking für die Spielzeit 2023/24 erneut ein Zeichen. Die Aufsehen erregende Produktion von Hans Werner Henzes politischer Parabel „Das Floß der Medusa“ in Hangar 1 des ehemaligen Flughafens Tempelhof bildet am vergangenen Samstag zugleich den Auftakt für die Inbetriebnahme alternativer Spielstätten, mit der über die nächsten Jahre hinweg die Renovierung des Opernhauses in der Behrenstraße überbrückt werden soll.

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Hans Werner Henzes szenisches Oratorium „Das Floß der Medusa“ (1967/68), komponiert auf ein Libretto von Ernst Schnabel, hat sich mehr als ein halbes Jahrhundert nach den Ereignissen um die geplatzte Hamburger Uraufführung von 1968 zu einem herausfordernden Repertoirestück entwickelt, vor dessen Realisierung auch Opernhäuser nicht mehr halt machen. Dies mag an der brennenden Aktualität des Sujets und dem ihm zugrundeliegenden Schiffbruch von 1816 liegen, der in Théodore Géricaults bekanntem Gemälde „La Radeau de La Méduse“ (1819) eine gleichsam ikonische Ausformulierung erfuhr – geht es doch um die Frage nach der Menschlichkeit angesichts eines bewusst in Kauf genommenen Schiffbruchs unterprivilegierter Menschen auf hoher See, das Nachzeichnen der Konsequenzen eines Verlusts moralischer Werte im Angesicht des Todes und nicht zuletzt auch die Frage nach der Verantwortung einer Gesellschaft, die ein solches Ereignis achselzuckend hinnimmt.

Assoziationen zum skandalösen Dauerzustand der nach wie vor aktuellen Flüchtlingskatastrophen im Mittelmeer stellen sich also unwillkürlich ein, auch wenn Regisseur Tobias Kratzer im Vorfeld in einem Gespräch hervorhob, das Stück handele viel allgemeiner „von Ressourcenknappheit“, die „einerseits das Klassenproblem und anderseits die Verknappung von bewohnbarem Lebensraum umfasst“.

Spektaktakuläre Realisierung

Nimmt man dies wörtlich, so steht die spektakuläre Realisierung in Hangar 1 des ehemaligen Flughafens Tempelhof quer zum kritischen Potenzial des Stückes, denn sie ist geprägt von einem wahrhaft verschwenderischen und mithin auch etwas fragwürdigen Umgang mit natürlichen Ressourcen: Im Zentrum steht ein monumentales rechteckiges Wasserbecken, dessen Längsseiten von den beiden Publikumstribünen flankiert sind, während das Orchester an der Kopfseite gegenüber dem riesigen Hangartor platziert ist. Die aufwändige Konstruktion von Wasserbühne und Auditorium wurde im Vorfeld der Aufführung nicht nur im Internet dokumentiert, sondern auch sehr geschickt zu Werbezwecken eingesetzt, was sich insofern ausgezahlt hat, als die fünf ursprünglich anberaumten Aufführungen des Werkes aufgrund der hohen Nachfrage um einen sechsten Termin ergänzt wurden.

Von Anfang an stellt sich jedoch die Frage, ob dies dem Stück tatsächlich dienlich ist, da der mit dem Setting gegebene Zwang zu quasi-filmischer Action die inhaltliche Brisanz des Oratoriums zu überschatten droht. Zwar bietet die Inszenierung viele einleuchtende Momente, doch wird gerade die Situation des Gefangenseins auf engstem Raum zum Problem, da die Regie das gedrängte Beisammensein der Schiffbrüchigen auf dem Floß immer wieder aufbricht, um die bedrückende Statik zu vermeiden und den Ereignissen mehr Bewegung zu verleihen.

Dieser Einwand ändert nichts daran, dass die visuelle Seite der Aufführung einen bleibenden Eindruck hinterlässt, denn die Bewegungen der riesigen Menschenmasse und ihrer einzelnen Glieder – gebildet aus Chorsolisten, Bewegungschor und Kinderkomparserie der Komischen Oper, dem Vocalconsort Berlin und dem Staats- und Domchor Berlin – sind perfekt choreografiert und aufeinander abgestimmt. Den außerordentlich gut präparierten und auf höchstem Niveau agierenden Chorist:innen – darunter auch die ganz hervorragenden, im Programmheft leider nicht namentlich ausgewiesenen Knabensolisten – steht das aufeinander bezogene Handeln der beiden großen Hauptpartien gegenüber: Da ist einmal der Matrose Jean-Charles, der als Identifikationsfigur für das Publikum dient, in der Rolle des tatkräftigen Idealisten die Schiffbrüchigen zum Überlebenskampf anstachelt und den Verfall der Moral zu bekämpfen sucht. Bariton Günter Papendell gestaltet diesen anspruchsvollen Part ganz aus den Erfordernissen dramatischer oder reflexiver Situationen heraus und verleiht ihm durch vielseitigen Umgang mit den von Henze geforderten Stimmtechniken ein emotionales, durchweg kraftvolles Profil. Da ist aber auch Jean-Charles’ Gegenspielerin La Mort, die den Tod als sirenenhafte Verführerin verkörpert, immer danach trachtend, die Schiffbrüchigen zur Selbstaufgabe zu bewegen und sie zum Übertritt auf ihre Seite zu bewegen. Sopranistin Gloria Rehm sorgt mit geschmeidiger Stimme für eine atmosphärische und atemberaubende Umsetzung dieser aufgrund ihres Stimmumfangs extrem schwierigen Partie. Dabei werden all jene Momente, in denen die entgegengesetzten Interessen beider Protagonisten aufeinanderprallen und sich zum musikalisch ausgetragenen Kampf zwischen Lebenskampf und Todeswunsch hochschaukeln, zu Höhepunkten des Abends.

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Das Floß der Medusa an der Komischen Oper Berlin, Spielplatz Flughafen Tempelhof. Foto: Jaro Suffner

Das Floß der Medusa an der Komischen Oper Berlin, Spielplatz Flughafen Tempelhof. Foto: Jaro Suffner

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Probleme der Aufführung

Dritte Hauptfigur des Stückes ist der mythische Fährmann Charon, der das Geschehen als Erzähler kommentiert. Dass er den Ereignissen jedoch keineswegs neutral gegenübersteht, sondern durch seine Anwesenheit einen erkennbaren Einfluss ausübt, wird in Kratzers Inszenierung mehr als deutlich. Mit Schwimmweste bekleidet und im ersten Teil des Oratoriums in einem Schlauchboot agierend, wird Charon zudem zu einer Figur, in der Verweise auf die aktuelle Realität explizit gebündelt erscheinen. Die Idee, die ursprünglich einem Sprecher zugedachte Rolle mit einer Frauenstimme zu besetzten und dadurch der stark von Geschlechterklischees dominierten Gegenüberstellung von aktivem männlichem Prinzip (Jean-Charles) und verführerischer Weiblichkeit (La Mort) ein Gegengewicht zu verleihen, ist zwar prinzipiell sehr gut; doch erweist sich die Ausführung durch die Sopranistin Idunnu Münch als weniger glücklich. Ihre Wiedergabe des zwischen vielerlei Varianten freien und rhythmisch fixierten Sprechens, zwischen singender Deklamation und gesprochener Sprache schwankenden Parts lässt viel von der geforderten Differenzierung vermissen und wirkt stellenweise angestrengt und unentschlossen.

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Das Floß der Medusa an der Komischen Oper Berlin, Spielplatz Flughafen Tempelhof. Foto: Jaro Suffner

Das Floß der Medusa an der Komischen Oper Berlin, Spielplatz Flughafen Tempelhof. Foto: Jaro Suffner

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Leider hat sich die Komische Oper auch dagegen entschieden, auf die prägnante Urfassung der Komposition zurückzugreifen – sie ist ganz aktuell in einer gerade erst auf CD erschienenen Aufzeichnung einer Aufführung aus dem Konzerthaus Wien präsent – und stattdessen mit der von Henze in freiwilliger Selbstzensur durchgeführten Überarbeitung aus dem Jahr 1990 Vorlieb genommen. Dieser amputierten Version fehlt gerade das, was dem Stück eigentlich seine Kraft verleiht: der im Finale durch den Chor in Gestalt von „Ho Chi Minh“-Rufen artikulierte Protest, der vom dargestellten historischen Geschehen des Schiffbruchs abstrahiert und auf das Unrecht der Gegenwart verweist. Dass der Schluss auf diese Weise den letzten Worten Charons und dem gewaltigen, von Schlagwerk dominierten Orchestercrescendo gehört, ohne dass die Masse der mahnenden Chorstimmen noch einmal zum Zuge kommt, passt allerdings ganz zum Inzenierungskonzept, das sich an dieser Stelle dem Realitätskitsch ergibt – öffnen sich nun doch die Hangartore, worauf die letzten Überlebenden das Floß verlassen und sich hinaus aufs Rollfeld schleppen, wo bereits demonstrativ ein Rettungswagen auf sie wartet.

Der eigentliche Feind der Aufführung ist freilich nicht diese szenische Lösung, sondern der mit viel Vorschusslorbeeren bedachte Aufführungsort. Er sorgt dafür, dass alles, was musikalisch dem Forte zustrebt oder sich darüber hinaus entwickelt, zu einem ziemlich undurchdringlichen, unförmigen Klangbrei wird. Das ist mehr als bedauerlich, weil dadurch die enormen Leistungen der Mitwirkenden akustisch geradezu ertränkt werden. Was der Dirigent Titus Engel Engel in den leisen Passagen des Stückes an zarten Klangfarben aus dem Orchester herausholt, wie er beispielsweise die miteinander verknüpften Holzbläserketten zu beweglichen, irisierenden Gebilden formt oder einzelnen Instrumentationsschichten gegenüber anderen Spannung und Vorrang verleiht, ist – trotz der laut rauschenden Klimaanlage – sensationell, geht allerdings bei zunehmender Lautstärke ebenso verloren wie der differenzierte Vokalvortrag von Chören und Chorsolist:innen. Und das ist letzten Endes doch sehr schade.

  • Spielort: Flughafen Tempelhof – Hangar 1, Columbiadamm 10, 12101 Berlin
  • Weitere Aufführungen am 23., 26., 28. und 30. September sowie am 2. und 3. Oktober 2023.
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