„Geisterspiel“ – bei diesem Wort denkt man im Frühsommer 2020 an Fußball und nicht an Theater und Orchester. Doch auch sie haben in den letzten Wochen per Kamera den Weg aus leeren Zuschauerräumen zum Publikum gesucht. Oft ist dabei nicht mehr herausgekommen als ein abgefilmter Konzert- oder Theaterabend, dem die Aura des Live-Ereignisses fehlt. Am Staatstheater „Mainz“ war man mutiger: Das im Probenstadium befindliche interdisziplinäre „Beethoven“-Porträt wurde als „Geisterspiel“ zu einer echten Fernsehproduktion in ZDF und 3sat geadelt.
„Beethoven – ein Geisterspiel“ ist auch in der Fernsehversion zur einen Hälfte geblieben, was Hausregisseur Jan-Christoph Gockel und Generalmusikdirektor Hermann Bäumer geplant hatten: Eine spartenübergreifende Theater-Collage weniger über Beethoven selbst als über die Bilder, die wir von ihm haben. Und so ist die Figur Beethoven gleich in mehrfacher Gestalt zu erleben. Der Schauspieler Vincent Doddema spielt den 31-jährigen Komponisten, der unter dem Eindruck seines fortschreitenden Gehörleidens das sogenannte Heiligenstädter Testament verfasst hat; dieser Beethoven ist allein und einsam und schreit, ohne dass ihn jemand hört, sein Leid in die Welt hinaus – einschließlich einer unterschobenen Passage über das „Geisterspiel der Töne“, die die Regie in frühromantischem Geist erfunden haben dürfte. Dann gibt es Beethoven als Denkmal: Gelassen spaziert der Sänger Michael Dahmen als mit Taubenkot besudelte Statue durchs Bild und tut an unerwarteter Stelle den Mund auf. Hinzu kommt Beethoven als beinahe lebensgroße Marionette – so, wie man sich ihn als öffentliche Figur im Wien seiner Zeit vorstellt. Gravitätisch schreitet er mit herabgezogenen Mundwinkeln über die Bühne; leidenschaftlich blinkt er zu den Klängen der strengen „Coriolan-Ouvertüre“ mit den Augendeckeln. Einen unerwarteten Vorzug hat er jetzt, angesichts der Abstandsregeln auf der Bühne: Man darf ihm näherkommen, ihn sogar anfassen. Hergestellt hat die Marionette der Puppenbauer Michael Pietsch, der sie im Film auch führt und dabei den Konstrukteur Johann Nepomuk Mälzel verkörpert.
„Beet-o-Magic“
Mälzel alias Pietsch verdanken wir auch eine weitere Puppe: Beethoven als Dirigenten in einem Musikautomaten namens „Beet-o-Magic“, der gleich anfangs den Beginn der „Schicksalssinfonie“ von sich gibt, später aber seinen Geist aufgibt. Massenhaft gibt es sodann den Komponisten als Marketing- und Exportartikel: Die Theaterwerkstatt stellt kleine, in den verschiedensten Farben bemalte Plastikmodelle her und verschickt sie per Paket in alle Welt. Und schließlich gibt es den Komponisten auch als Bestandteil höchst persönlich gefärbter Erinnerungskultur. Gastgeber und Conférencier der Beethoven-Veranstaltung auf der Bühne, dem Film nach sogar ihr Regisseur, ist niemand anders als Beethovens Sekretär und späterer Biograph Anton Schindler, verkörpert vom Schauspieler Rüdiger Hauffe. Schindler ist emsig bemüht, sein nachträglich stilisiertes Beethoven-Bild zu verbreiten und durchzusetzen. Doch in Bettine von Arnim, gespielt von Anika Baumann, erwächst ihm mächtige Konkurrenz. Sie, „als einzige Frau im Stück natürlich für die Liebe zuständig“, stilisiert sich geschickt zur Vertrauten des Komponisten und legt sogar ihre Wange an die seine – mit einer corona-gerechten Zimmerwand dazwischen. Im Laufe des Stückes regt sich Bettine mächtig über Schindler auf: „Ich habe zwar auch gelogen, aber nicht so!!!“ Zusammen, aber nach Einzelzimmern getrennt, bevölkern die menschlichen Figuren das Obergeschoss eines zweistöckigen, zirkusartig beleuchteten Pavillons auf der Bühne des Großen Hauses. In dessen Untergeschoss finden wir eine Art Zeittunnel, gerahmt von einem Salon und einem Devotionalien-Raum. Auch Fiona Macleod, Korrepetitorin am Staatstheater, ist samt Klavier in den Pavillon integriert und in ein historisch anmutendes Kostüm gekleidet. Vor Theaterpublikum hätte sich der von Julia Kurzweg entworfene Bau gedreht. Im Film bietet sich sogar eine Draufsicht.
Beethovens Musik gibt es natürlich auch – aber eben als Collage wie in einem Dokumentarfilm. Fiona Macleod spielt vor allem Auszüge aus mehreren Klaviersonaten Beethovens, am häufigsten aus Nr. 26 („Les Adieux“), aber auch eine parodistisch verfremdete Version von „Für Elise“. Und sie begleitet Michael Dahmen (die Statue) bei drei kompletten Liedern; „Urians Reise um die Welt“, „Resignation“ und „Nimm sie hin denn, diese Lieder“ – wobei die Kameraführung den nötigen Abstand geschickt vergessen macht. Schon im Vorspann des Films hören wir die Musiker des Philharmonischen Staatsorchesters Mainz ihre Instrumente stimmen. GMD Hermann Bäumer betritt den Orchestergraben, doch das Orchester blickt ihn aus lauter Einzelbildschirmen an. (In mühsamer Kleinarbeit hat die Klangregie die einzelnen Spuren übereinander gelegt.) Für den „Chor der Derwische“ aus der Musik zum Schauspiel „Die Ruinen von Athen“ kommt sogar noch der virtuelle Herrenchor hinzu. Nicht unerwartet sind die Ausschnitte aus den berühmten Sinfonien Nr. 5, 7 und 9. Musikalisch am spannendsten aber wird es, wo Bäumer mit dem Orchester den Trauermarsch aus der Schauspielmusik zu Johann Friedrich Dunckers „Leonore Prohaska“ ganz allmählich aus isolierten Floskeln und Motiven zusammensetzt. Hier zeigt sich, was „Beethoven – Ein Geisterspiel“ auch hätte werden können, aber sicher nicht geworden ist: Ein Stück über die Faszination von Beethovens Musik.
„Theater ist eine Übereinkunft, einen Abend miteinander durchzuhalten.“
Stattdessen ist es ein hintersinniges und kurzweiliges Dokument der Theaterkrise zu Corona-Zeiten geworden. Wir sehen die Protagonisten auf den nur schwach belebten Plätzen und Straßen rund um das Mainzer Staatstheater; die Kamera folgt ihnen in die Umkleide, in die Maske, in die Technikkabine und auf die Probenbühne. Zachary Chant und Denislav Kanev (beide Tänzer, der eine bei TanzMainz, der andere im Hessischen Staatsballett) führen Live-Interviews mit den Darstellern über ihre Rolle. Und wenn der Film-Vorspann das Heiligenstädter Testament zitiert, glaubt man fast, das Theater als solches zu hören: „Wie ein Verbannter muss ich leben. Es fehlte wenig und ich endigte selbst mein Leben – nur sie, die Kunst hielt mich zurück.“ Zunehmend gerät die Arbeit am Beethoven-Programm selbst in die Krise. Immer wieder schwenkt die Kamera in den leeren Zuschauerraum des Großen Hauses – für die Künstler Anlass für Selbstzweifel und Anlass zum Streit. Doch muss es nicht weitergehen? Es siegt dann doch das Berufsethos, und es fällt der schöne Satz: „Theater ist eine Übereinkunft, einen Abend miteinander durchzuhalten.“ Eine Pause wird genutzt, um Zuschauerfotos über die Sitze zu verteilen. (Massenhaft ist offenbar das Mainzer Publikum dem Aufruf der Theaterleitung gefolgt, Bilder zur Verfügung zu stellen.) Doch der neue Schwung währt nur kurz. Über dem Theatereingang prangt zwar immer noch der Schriftzug „Bis bald“. Aber wann ist „bald“? Klappt das wirklich mit dem Film? Müdigkeit legt sich über die Produktion. Man wartet auf bessere Zeiten. GMD Bäumer hat sich sogar einen Schlafsack mitgebracht. Anika Baumann, eingenickt, schrickt plötzlich aus dem Schlaf und glaubt, sie habe in diesem Zustand Jahre verbracht und dabei sogar das Aufwachsen ihrer Kinder verpasst. In Panik rauscht sie davon. Bettine von Arnim hat sich damit aus dem Stück verabschiedet.
„Bis bald“. Aber wann ist „bald“?
Nicht aber, und das ist die unerwartete Wendung, ihre Darstellerin. Die kommt nämlich wieder als wohlbeleibte Europa-Figur, stürmt über den Gutenbergplatz ins Theater, verlangt aufgeregt nach Publikum und Musik – und bricht hyperventilierend auf der Bühne zusammen. Während sie noch von der Bühnentechnik mit Sauerstoff versorgt wird, schält sich der GMD aus seinem Schlafsack, ergreift den Taktstock und springt mit seinem Geister-Orchester hinein in die Finaldramatik der 9. Sinfonie. Auch Michael Dahmen, der Sänger, hat noch ausgeharrt. Er öffnet die Fensterklappe des Pavillons und setzt rechtzeitig ein: „O Freunde, nicht diese Töne!“ Und während das Orchester den Freudenhymnus intoniert und sich die Bühnen-Europa wieder berappelt, überrascht uns der Film mit Bildern aus aller Welt. Trotz aller Einreisesperren und Kontaktbeschränkungen haben die kleinen bunten Beethoven-Puppen ihren Weg zu den verschiedensten Menschen in den USA und im Kongo, in Burkina Faso, Hongkong, Japan, Frankreich, Italien, Griechenland und England gefunden. Wir sehen Beethoven vor dem UN-Gebäude in New York, vor der Aufschrift „Black Lives Matter“ und der Corona-Parole „Leave no one behind“. Es ist, als gäbe die Krise, die eben noch das Projekt lahmgelegt hat, ihm nun – mit Hilfe von ZDF und 3sat – den entscheidenden Dreh. Und es ist sicher kein Zufall, dass sich das Staatstheater mit einem ganz neuen Banner in die Sommerpause verabschiedet: „Seid umschlungen, Millionen! Diesen Kuss der ganzen Welt.“
Vor diesem Abschiedsgruß war über dem Eingang des Großen Hauses noch eine andere Aufschrift zu lesen: „Wir sind wieder im Spiel“. Tatsächlich war am Ausstrahlungstag des Beethoven-Films im ZDF im Kleinen Haus des Staatstheaters sogar eine echte „Corona-Premiere“ zu erleben. Der französische Gastchoreograph Pierre Rigal, dessen Produktion „Welcome Everybody“ kurz vor der Premiere der Theaterschließung zum Opfer fiel, harrte in Mainz aus und erarbeitete schließlich unter Wahrung des Abstandsgebots mit neun Ensemblemitgliedern „Extra Time“: Eine schöne, packende und stellenweise witzige Bühnenfantasie über das Wiedererwachen des Ensembletanzes aus der Pandemie-bedingten Starre. Schon vorher hatte die Schauspielsparte ihre letzte Premiere fast planmäßig über die Bühne gebracht. In der deutschen Erstaufführung von Beau Willimons spannendem Wahlkampf-Thriller „Tage des Verrats“ (im US-amerikanischen Original „Farragut North“) machte Regisseur K. D. Schmidt das Abstandgebot geradezu zur szenischen Chiffre für ein politisches Milieu, das zwischen den aufstiegsorientierten Protagonisten keine wirkliche persönliche Nähe mehr zulässt.
„Wir sind wieder im Spiel“
Und schließlich folgte – wiederum fast planmäßig, nur an einem anderen als dem geplanten Aufführungsort – die letzte Musiktheaterpremiere der Spielzeit. „Im Tal der Ahnen“ ist eine abwechslungsreiche theatralisch-musikalische Collage von Schauspielregisseur Niklas Helbling zum Thema „Indianer-Sehnsucht“ – unterhaltsam, manchmal irrwitzig, oft nachdenklich, und dabei ironisch im Umgang mit rassistischen Klischees. Den hemdsärmeligen Umgang mit den Werkausschnitten von Henry Purcell und Carl Heinrich Graun muss man allerdings beklagen, während Edgar Varèse, György Ligeti und vor allem Frank Zappa zu den musikalischen Gewinnern des Abends im Alten Postlager hinter dem Hauptbahnhof gehören. Plexiglasvisiere, Plexiglaswände und Bildschirme werden oft, vielseitig und sinnvoll benutzt, und man könnte meinen, die Idee auch dieses Abends sei kurzfristig im Zuge der Pandemie entstanden. Tatsächlich aber lebt das Mainzer Staatstheater auch in der Krise von einem Teamgeist spartenübergreifender Gemeinsamkeit, der sich über Jahre hinweg entwickelt hat.
- Der Film "Beethoven - Ein Geisterspiel" ist bis zum 12.9.2020 in der ZDF-Mediathek abrufbar.