Mit der Uraufführung von Jüri Reinveres Oper „Minona – Ein Leben im Schatten Beethovens“ rund um die mögliche Tochter des Komponisten mit Josephine Brunsvik versucht das Theater Regensburg einen eigenen Akzent im beginnenden Beethoven-Jahr zu setzen. Mit überschaubarem künstlerischen Ertrag, findet unser Berichterstatter.
Des Intendanten Kalkül ist wieder einmal aufgegangen: Zu Beginn des Jubeljahres eine Oper mit Beethoven-Bezug, noch dazu das Rätsel um die „Unsterbliche Geliebte“ aufnehmend – das garantiert überregionale Berichterstattung und für einen Abend scheint Regensburg der Nabel der deutschen Musiktheaterwelt zu sein.
Der estnische Komponist Jüri Reinvere (Jg. 1971) hat seiner Oper eine durchaus nachdenkenswerte Frage zugrunde gelegt: Was macht es mit einer Frau, wenn sie davon ausgehen muss, die uneheliche Tochter Ludwig van Beethovens zu sein? Minona von Stackelberg ist diese Frau, und einiges spricht dafür, dass ihre Mutter, geborene Josephine Brunsvik, jene „Unsterbliche Geliebte“ war, der Beethovens berühmter, nicht abgeschickter Brief galt. Die These, von der Reinvere ausgeht (unter anderem gestützt auf Harry Goldschmidts und eigene Forschungen): Josephine kehrte nach einer Prager Liebesnacht mit Beethoven – Eheproblemen zum Trotz – schnell zu ihrem Gatten, dem estnischen Baron Christoph von Stackelberg zurück, um die neun Monate später geborene Tochter als seine ausgeben zu können. Deren Name Minona, rückwärts gelesen „Anonim“, gilt als ein Indiz für diese These.
Das Libretto, das Reinvere selbst verfasst hat, ist in drei Stationen gegliedert: 1812 entscheidet sich Josephine im Dialog mit der Gräfin von Goltz nach der Liebesnacht für die Rückkehr zu ihrem Mann; 1828 leidet die junge Minona in Reval unter der brutalen Strenge des Pietisten Stackelberg; 1870 – man feiert Beethovens 100. Geburtstag – versucht Minona anhand aufgefundener Briefe ihrer Mutter und in imaginärer Zwiesprache mit Leonore aus dem „Fidelio“ ihre Lebensgeschichte zu verarbeiten. Dieser, vorsichtig gesagt, unspektakulären Ausgangslage ringt Reinvere durchaus einige poetisch-suggestive Textpassagen ab. Das Potenzial, zwei interessante Frauenfiguren auf die Bühne zu bringen – eine, von der man einiges weiß, und eine, über die man trefflich spekulieren kann – ist durchaus erkennbar.
Leider lesen sich Reinveres Interviews und Kommentare hierzu aber weitaus interessanter als seine Musik sich anhört. Dem ersten Akt (den Stationen 1812 und 1828) unterlegt Reinvere praktisch durchgehend nichts anderes als einen mal tremolierend angerauten, mal flächig mäandernden Klangteppich in mäßig origineller Freitonalität. Der Gesang kann sich darüber textverständlich in ziemlich beliebigen Linien verströmen; wenn Stackelberg zuschlägt, wird‘s etwas lauter, wenn der Chor frömmelnd singt, wird‘s leiser.
Nach der Pause erhöht sich die harmonische Geschwindigkeit ein wenig und aus dem Orchester wuselt neben Tonleiterausschnitten auch mal annähernd Motivisches (der möglicherweise als solcher zu verstehende „Jo-se-phi-ne“-Rhythmus aus Beethoven Andante favori WoO 57 ist ab und an zu erahnen). Mit etwas gutem Willen kann man diese Änderung des kompositorischen Duktus’ als Minonas konkrete Gegenwart 1870 im Kontrast zu den verschwommeneren Rückblicken des ersten Aktes deuten. Ein wenig aufhorchen lässt dann aber doch nur das einzige echte Zitat: Das Fidelio-Quartett „Mir ist so wunderbar“, dessen Text schon im ersten Akt anzitiert worden war, wird notengetreu über Haltenoten gesungen. So einfach kann man es sich bei der Zwiesprache mit einem Titanen also auch machen: Beethoven mal kurz in den Rachen greifen und schnell wieder zurückziehen.
Regisseur Hendrik Müller müht sich gehörig, das Ganze aufzupeppen, und sorgt dafür, dass es der dürftigen musikalischen Ausbeute zum Trotz zumindest nicht langweilig wird: Der Einstieg mit dem Beethoven-Nachfahren aus Mauricio Kagels Beethoven-Film ist nett, später spielt noch eine Badewanne voller Büsten auf „Ludwig van“ an. Vor allem aber schließt Müller Minonas Vater-Obsession mit dem fragwürdigen Beethoven-Kult Elly Neys kurz. Nicht nur Ausschnitte aus ihren verquasten Texten (von 1942) werden verlesen, die alte Minona selbst trägt Züge der Pianistin, die ihre Kunst in den Dienst der nationalsozialistischen Ideologie stellte.
Bei Müller verfällt Minona dem Wahnsinn, entsprechend dominiert den drehbaren, vor dem Hintergrund eines großen Opernhaus-Panoramas postierten Bühnenaufbau (Marc Weeger) ein Käfig, in dem sie weggesperrt wird. Darüber thront eine Orgel, an der mal Minona, mal Wiedergänger Bachs und Händels (unhörbar) hantieren dürfen. Weitere Komponisten-Heroen von Haydn über Schubert und Chopin bis Liszt und Wagner versammeln sich mitunter zur Beethoven-Soirée am Flügel.
Die imaginierte Gesprächspartnerin Leonore ist hier Minonas Nervenärztin, die sich per Unterschrift offenbar den Nachlass der am Ende Selbstmord begehenden Patientin sichert – ein Detail, das ohne Kenntnis der diffizilen Streitigkeiten zwischen den Brunsviks und den Stackelbergs kaum verständlich ist. Die Bediensteten (hier Commedia-dell-arte-Figuren), die die Beethoven-Josephine-Briefe verschachern wollen, erschießt sie kurzerhand. Für weitere optische Action sorgt Andreas Erb mit gut geführter Live-Kamera, deren Schwarz-Weiß-Bilder suggestiv projiziert werden.
Das sängerische Niveau des Abends ist erfreulich: Theodora Varga (die alte Minona) und Anna Pisareva (als Josephine und junge Minona) gelingt es, ihren Figuren durch differenziert-intensive Vokalgestaltung Leben einzuhauchen. Die weiblichen Nebenrollen sind mit Vera Semieniuk (Gräfin von Goltz), Deniz Yetim (Leonore) und Esther Baar (Minonas Schwester Marie) ausgezeichnet, die männlichen mit Adam Kruzel (von Stackelberg), Johannes Mooser (Graf von Teleki) und Deniz Yilmaz (Attila de Gerando) gut besetzt. Das Philharmonische Orchester spielt unter GMD Chin-Chao Lin sängerfreundlich zurückhaltend und gibt beim immerhin effektvollen Dauercrescendo zu Beginn des letzten Bildes ordentlich Gas.
Das Beethoven-Jahr ist eröffnet, es ist noch viel Luft nach oben.