Weltweit nutzt der Musikbetrieb heute jede Möglichkeit, um Festivals und Events zu gestalten; und Kultur beziehungsweise Musikkultur mutet nicht selten an wie eine hypertrophe Anhäufung von Ereignissen, die insgesamt oder an irgendeiner Stelle das Besondere für sich reklamieren. Das Festival ist nicht mehr, wie ursprünglich im Sinne seiner Bedeutung gedacht, die Ausnahme, die Unterbrechung im Alltag; die Ausnahme ist vielmehr zur Regel und zur Dauereinrichtung geworden.
Es gibt allerdings durchaus Musikereignisse, deren Atmosphäre tatsächlich einem Fest entspricht, die einen festivalähnlichen Zuschnitt aufweisen, ohne ins Spektakuläre zu verfallen, sondern sich vielmehr einem höchst seriösen Anspruch verpflichtet wissen und diesen auch verfolgen.
Ein solches Ereignis stellt das Jerusalem Chamber Music Festival dar, das in diesem Jahr schon zum elften Mal und wieder wie in den Jahren zuvor im September stattfand.
Züge zum Galahaften, zu einer ehrgeizig intendierten Form von elitären Auftritten sind selbst im Ansatz nicht zu erkennen. Das Besondere an diesem Projekt ist zunächst, dass es überhaupt jedes Jahr, also regelmäßig stattfinden kann. Es wird getragen und finanziert durch private Sponsoren, vor allem aus den USA, und durch ein beispielhaftes Engagement, vor allem der teilnehmenden Musiker selbst, die auf jegliche Honorare verzichten. Man hat den Eindruck, hier zählen nur die Musik selbst und ein Miteinandermusizieren, bei dem Freundschaft und Kontaktbedürfnis die Impulse geben.
Dieses Kammermusikfestival darf man aber auch als ein musikalisches Geschenk ansehen, als ein Geschenk an Jerusalem, an seine und Israels Bürger und Bewohner, sowie an die vielen, die aus dem Ausland kommen und hier ihre Heimat spüren, die ihnen durch „große“ Musik aus der Kultur, in der sie aufgewachsen sind, vermittelt und zugänglich gemacht wird. Ohne Frage aber auch konnte sich dieses Festival deshalb so überzeugend etablieren, weil Jerusalem im Unterschied zu Tel Aviv kein wirklich attraktives Kultur- und Musikleben übers Jahr aufzuweisen hat. Es fehlen die entsprechenden Strukturen; es fehlen aber auch jene gesellschaftlichen Lebenspraktiken, die zum Ausbau eines funktionierenden Musiklebens erforderlich sind.
Wie in den Vorjahren waren auch in diesem September alle fünfzehn Konzerte in dem 600 Plätze fassenden Saal der YMCA-Concert Hall überfüllt. Von überall her strömen die Menschen in diese Konzerthalle, füllen sie mit einem irren Sprachengewirr und dem spürbaren Bedürfnis, die Freude über dieses Zusammenkommen und das zu erwartende Erlebnis aus dem „Geiste der Musik“ auch wirklich bekunden und zum Ausdruck bringen zu wollen.
Der Konzertsaal ist von eigener Art; er vereint in schöner Mischung und entsprechend der arabischen Architektur aus den 30er-Jahren die Symbole der drei Religionen: Kreuz, Davidstern und Halbmond. Wie nehmen die Besucher diesen Ort der ökumenischen Begegnung wohl wahr? Das Publikum hier unterscheidet sich in Aussehen, in Habitus und Kleidung extrem von den Menschen, die das Straßenbild von Jerusalem prägen. Drinnen und draußen, welche Diskrepanz. Geradezu in zwei Welten fühlt man sich, und dies verweist auf das Grundproblem in den gesellschaftlichen Lebensverhältnissen Israels, nämlich auf die Spaltungen und Risse, die durch die Bevölkerung verlaufen, so zwischen den Orthodoxen und den Säkularen, zwischen den arabischen und jüdischen Israelis, zwischen Migranten und Einheimischen, zwischen Jung und Alt. Das Konzertpublikum stellen mehrheitlich die europäischen und osteuropäischen Migranten, die ihre Heimat verlassen und damit auch etwas verloren haben, was ihnen offensichtlich dieses Kammermusikfestival zurückgibt.
Zum ersten Mal in der Geschichte dieses Jerusalem-Festivals hat man in diesem Jahr einen Orthodoxen im Saal gesehen. Es war der Komponist Gideon Lewensohn (geboren 1954), der für das Festival und in dessen Auftrag ein Quartett für Violine, Violoncello, Klarinette und Klavier komponiert hat, ein Werk von großen Atembögen, ein Erinnerungsstück, das musiksprachlich der spätromantischen Tradition verhaftet bleibt.
Thematisch orientierte die Leiterin des Festivals, die Pianistin Elena Bashkirova, die Konzertprogramme in diesem Jahr an dem Motto „vom nationalen Geist der Musik“.
Jeder Konzertabend stand so mehr oder weniger im Zeichen einer nationalen Schule oder Identität, der russischen, der französischen, der italienischen, der spanischen, der deutschen und so weiter. Das machte spezifische Idiome deutlich und eben auch die Unterschiede innerhalb der europäischen Gemeinsamkeiten. Das wiederum bedeutete für das Festival insgesamt eine klare, gut fassbare Struktur bei größter Vielfalt.
Dabei konnte man viel Beeindruckendes erleben, so zum Beispiel die vielseitige sprachliche Versiertheit, mit der die Mezzosopranistin Stella Doufexis aus Berlin das Publikum zu verzaubern verstand – mit Liedern von de Falla, Strawinsky und Liszt. Auffallend ist, wie sehr das Publikum Vokalmusik liebt, insbesondere das deutsche „Lied“. Die Über-raschung in diesem Jahr war die für den erkrankten Robert Holl eingesprungene junge Amerikanerin Michelle de Young, die zusammen mit Daniel Barenboim die Rückert-Lieder und den Zyklus „Lieder eines fahrenden Gesellen“ von Gustav Mahler zum unvergesslichen Ereignis machte. Dass sich das Publikum gerade in diesem Gattungsbereich nichts vormachen lässt, zeigte aber auch die zurückhaltende Reaktion im Falle von Rolando Villazón, dessen Darstellung von Robert Schumanns „Dichterliebe“ eben doch erhebliche Defizite zeigte. Da vermochte selbst die unglaubliche und bezwingende Kompetenz Daniel Barenboims nichts auszurichten, es sei denn, man widmete sich primär seiner so feinsinnigen Darstellung im Klavierpart.
Man fragte sich natürlich angesichts seiner Präsenz überhaupt, was dieser Künstler wohl empfinden mochte in Jerusalem in solchen Momenten, wo ihm die Musik zum persönlichen Residuum zu werden schien, zum Schutzraum gegenüber dem Unverständnis, den Anfeindungen, ja den Hass auf ihn auf Seiten mancher Israelis. Viele mögen ihn hier nicht, weder sein Engagement für eine alternative israelische Politik in der Auseinandersetzung mit den Palästinensern, noch sein „Divan“-Orchester und seine musikalische Bildungsinitiative für palästinensische Kinder. Auch sein gerade erschienenes neues Buch sucht man in den Buchhandlungen vergebens; stattdessen sieht er sich Beleidigungen und hässlichen Formen von Anfeindungen ausgesetzt.
Barenboim verfügt allerdings über eine beneidenswerte Energie und über eine Unbeirrbarkeit in seinen Überzeugungen, die man letztlich nur bewundern kann. Das betrifft auch seine Liebe zu Elliott Carter, den bald hundertjährigen amerikanischen Komponisten aus New York, dem und dessen Musik er sich aufs Innigste verbunden fühlt. Carter war dieses Jerusalem-Festival in gewisser Weise gewidmet. Wie ein roter Faden zogen sich Aufführungen seiner Werke durch die Programme. Die nüchterne Strenge von Carters kompositorischer Rationalität, die spielerisch heitere Komponente seiner Musik, die Seriosität des Handwerklichen sowie die Brillanz des Virtuosen fanden Ausdruck in dem neuen Flötenkonzert, das für das Jerusalem-Festival, für die Berliner Philharmoniker und für das Boston Symphony Orchestra geschrieben wurde. Emmanuel Pahud als Solist und das unter Barenboims Leitung agierende Solistenensemble präsentierten den Hörern ein derart fein geschliffenes Juwel, dass es eine reine Freude war.
Ganz generell kann man sagen, dass das Kammermusikfestival von Jerusalem mit seinem ausnehmend hohen Interpretationsniveau einen absoluten Pluspunkt aufweist, der darin so exzeptionell anmutet, weil sich hier die verschiedensten Musikertypen, die unterschiedlichsten Vorstellungen und Darstellungsstile sowie Lesarten von Musik zusammenfinden und mischen. Da begegnet man einerseits so starken und gleichzeitig feinsinnigen Vertretern eines französischen Romantizismus wie der Pianistin Brigitte Engerer, oder dem israelischen Harfenisten Sivan Magen, dem Flötisten Guy Eshed aus Tel Aviv, dem heißblütigen David Kadouch am Klavier, einem vielversprechenden Jung-Talent aus Frankreich oder dem schon inzwischen bekannten Pianisten Kyrill Gerstein und dem Geiger Boris Brovtsyn; und andererseits sind da so erfahrene und absolut stilsicher musizierende Interpreten wie die Geiger Guy Braunstein und Michaela Martin, der Pianist und Dirigent Asher Fisch, oder der Fagottist Klaus Thunemann, die immer das besondere Format der Werke herauszuarbeiten verstehen. Die Mixturen aus den so unterschiedlichen Musikerpersönlichkeiten im Falle von Kammermusik führten zu enorm interessanten und spannenden Ergebnissen.
Schwerpunkt der Programmatik war die Romantische Musik des 19. Jahrhunderts, verknüpft mit Musik aus dem 20. Jahrhundert, in diesem Jahr neben Carter mit Werken von Martinu, Dutilleux, Strawinsky und Gubaidulina. Auffallend an der Programmdramaturgie ist das Motiv der Freundschaft und der geistigen Beziehungen unter den Komponisten, das die Werkzusammenstellungen bedingt und sich als Gegenmodell zu den bedrohlichen Realitäten in der Welt interpretieren lässt. Spannend sind aber auch die Raritäten, die unbekannten Werke sowie die Bearbeitungen, wie die von Schönbergs „Pelleas und Melisande“ für Kammerensemble (arrangiert von Cliff Cornot), oder Enesco Romanians Rhapsody Nr. 1, op.11 (arrangiert für Klavier und Streichquintett von Rudd). Alle diese programmatischen Kombinationen und Verschränkungen einerseits sowie Brechungen andererseits verleihen dem Festival eine kreative Lebendigkeit.