Der Erfurter Intendant Guy Montavon macht seinen Job seit der Eröffnung des neuen Opernhauses gut. Mit dem eisernen Festhalten an dem Versprechen, jedes Jahr eine Uraufführung herauszubringen und regelmäßig auch etwas auf dem Sektor Ausgrabungen anzubieten, macht er ihn sogar sehr gut. Dass das weder im einen noch im anderen Fall immer ein Reißer wird, liegt in der Natur der Sache. Manchmal hat die Vergesslichkeit der Rezeptionsgeschichte auch ihre guten Gründe.
Mit Beginn der neuen Spielzeit, in der es schon Ende November die Uraufführung (Das schwarze Blut von Fancois Fayt) und Ende Januar die Ausgrabung (Sigurd von Ernest Reyer) geben wird, hat er noch ein zusätzlich Ass im Ärmel. Und das ist seine neue Generalmusikdirektorin Joana Mallwitz. Bei ihr ist es nicht uncharmant auf ihre gerade mal 28 Jahre hinzuweisen und darauf, dass es einfach hinreißend ist, sie mit ihrer präzisen Eleganz dirigieren zu sehen, vor allem aber zu hören, was dabei herauskommt.
Nachdem sie mit Puccinis Butterfly als Einstiegspremiere schon ziemlich Furore gemacht hat, konnte man sie jetzt mit einer beglückend federnd und mitreißend dirigierten „Entführung aus dem Serail“ von Mozart erleben. Da wird es zum puren Vergnügen, dem Erfurter Orchester zu lauschen, das unter seiner neuen Chefin offenbar selbst gleich eine Verjüngungskur mitgemacht hat. Sie ist die jüngste GMD Deutschlands – und das ist gut so! Wenn Sie so weiter macht (als nächstes mit der hierzulande nahezu unbekannten französischen Götterdämmerungsadaption „Sigurd“) dann hat sie gute Chancen, selbst einen erheblichen Teil zu ihrem erklärten Ziel beizutragen, der Oper Erfurt mehr überregionale Bedeutung zu verschaffen.
Mit seiner „Entführung“ hat Mozart den Wunsch des Wiener Kaisers erfüllt, ein deutsches National-Singspiel zu schaffen. Aus der Rückschau ist es ein hübsches Bonmot, dass der Auftraggeber „gewaltig viel Noten“ darin fand. Sein Publikum und die Nachwelt haben natürlich Mozarts schlagfertiger Antwort „grad so viel Noten, Eure Majestät, als nötig sind“ recht gegeben. Und die werden jetzt in Erfurt auch in den gesprochenen Passagen im Grunde nicht störend unterbrochen.
Auch wenn Robert Wörle als Selim Pascha etwas aufdreht. Der gesprochene Text wirkt in seiner leicht aktualisierten Form passgenau und ist dem Fortgang der Geschichte dienlich.
Zwar ist diese Neuinszenierung kein Beispiel für tiefenpsychologisches sogenanntes Regietheater mit Schockeffekten mitteleuropäischer Prägung. Aber die türkische Regisseurin Yekta Kara (sie war von 1992–2000 Intendantin der Oper Ankara) hat die Geschichte, die sie geradlinig vor und in einer von Hank Irwin Kittel fast naturalistisch nachgebauten Luxusvilla am Bosporus spielen lässt, in die Gegenwart verlegt. Das ist zwar nun auch nicht neu, aber so wie sie es gemacht hat, doch ziemlich dicht am fundamentalistischen Brodeln unter der westlich ausgerichteten Moderne.
Der Bassa ist ein reicher, westlich orientierter Geschäftsmann oder Politiker. Jedenfalls hat er einen Riesenstab von Personal um sich herum, trinkt Alkohol, die Damen im Inneren seines Hauses sind leicht bekleidet, auf den Flachbildschirmen flimmert der neueste tagesaktuelle Horror aus der Region … alles ganz so, wie man sich eine dekadente Führungsschicht vorstellt. Dieser Selim hat die Europäer Konstanze (Julia Neumann im flotten Kostüm mit einem Minirock), Perdillo (beweglich: Paul Kaufmann) und die angepunkte Blonde (herzerfrischend: Romy Petrick) von Terroristen freigekauft. Dass die Sache geheim bleiben soll, ist Teil des Deals. Und Belmonte (als Gast aus Wien setzte Benjamin Bruns in einer Folge-Vorstellung einen hohen stimmlichen Maßstab!) versucht die Sache wie ein Unterhändler auf schwieriger Mission zu bereinigen.
Was vor ein paar Jahren noch ziemlich bemüht gewirkt hätte, ist heute ebenso beklemmend wahrscheinlich, wie der Konflikt im Hause Selim. Seine rechte Hand Osmin ist nämlich nicht nur verbal (wie immer) ein leicht sadistischer Fundamentalist, er hat hier auch eine Truppe von Vermummten bei der Hand, die die Mädels die anfangs die Kamera am Eingang der Villa zu sprühen und dann mit nacktem Oberkörper Flugblätter verteilen, schnappen und verschwinden lassen. Die Ehefrau Osmins ist streng orientalisch gekleidet, sein Sohn wie ein kleiner Prinz ausstaffiert. Auf Blonde ist er trotzdem scharf. Ein Sympathieträger ist der ja nie, wenn man ihm genau zuhört. Dass Gregor Loebel ihn etwas zu gemütlich singt, ändert daran nichts. Beim Schlusstableau, wenn es ans große Verzeihen und Freilassen geht, kocht dieser Mann nicht nur innerlich, er schreitet auch zur Tat: seine vermummten Glaubensgenossen überwältigen den Bassa und stülpen ihm schwarzes Tuch über den Kopf – überleben dürfte er das kaum. Das sitzt. Die Entführung ist heute eben weniger denn je, als nette folkloristische Veranstaltung zu haben.