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Bitte mal alle in Ruhe zuhören

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Das Netzwerk Süd verknüpft musikalische und musikpädagogische Initiativen im Großraum Stuttgart
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Die Esslinger Lebenshilfe, in einem Neubaugebiet weit oberhalb des Stadtzentrums gelegen, ist nicht gerade ein Ort, an dem sonst Aufführungen Neuer Musik stattfinden. Der Komponist Klaus Burger hat hier mit Behinderten der Einrichtung ein zehnminütiges Hörstück einstudiert, das einen kleinen Vorgeschmack gibt auf das, was im Programm des Netzwerks Süd noch folgen soll.

Aber gehört zu Neuer Musik nicht auch eine gewisse musikalische Bildung, sind nicht Notation und spezielle instrumentale Spieltechniken gefragt – lauter Dinge, die bei Behinderten kaum vorauszusetzen sind?

Das Netzwerk Süd ist eines von 15 Projekten des Netzwerks Neue Musik, welche die Bundeskulturstiftung mit insgesamt 8 Millionen Euro drei Jahre lang fördert. Zehn Prozent davon gehen nach Stuttgart, wo Musik der Jahrhunderte als federführender Veranstalter und die Partner aus umliegenden Gemeinden wenigstens den selben Betrag noch einmal anderweitig auftreiben müssen – angepeilt ist ein Gesamtetat von 1,97 Millionen. Allein 2008 sind in 16 Orten mehr als 30 Projekte geplant, mit so renommierten Ensembles wie den Neuen Vokalsolisten, Ascolta, Gelberklang, Phorminx und dem SWR Vokalensemble. Es geht um Vermittlung: darum, Neue Musik über den engen Kreis ihrer Anhänger hinaus in Bereiche zu tragen, wo sie bisher nicht vertreten war.

Burger holt die von der Lebenshilfe Betreuten dort ab, wo sie sich auskennen. Stimmklänge, Papierrascheln und Gießkannentrompeten folgen einem narrativen Faden von zwei Fröschen und einer Milchkanne nach dem Motto: Wer schwarz sieht, geht unter. Es ist ein Pilotprojekt, denn Burger hat mehr vor: Er will mit Behinderten ein Ensemble gründen.

Einen Schritt weiter ist Bernhard König, der in Reutlingen und noch einmal zum Abschluss des Festivals „Sommer in Stuttgart“ ein einstündiges Werk vorgestellt hat, in dem Orchestermusiker mit Behinderten zusammentreffen. „Accompagnato“ lautet der Titel: Im Mittelpunkt stehen die Akteure der Reutlinger Lebenshilfe, die verkleidet als Zirkusdirektor, Indianer, Hofnarr und Königin die Solistenrollen einnehmen. Nach ihren Fähigkeiten hat sich die Komposition, haben sich auch die Musiker der Württembergischen Philharmonie Reutlingen im Moment der Aufführung zu richten.

Wer sich auf den ersten Blick unangenehm an eine Freak Show erinnert fühlt, sieht sich nach besserem Hinhören aufs Angenehmste getäuscht: Die Behinderten werden nicht vorgeführt, sie verwirklichen eigene Vorstellungen. Was dabei herauskommt, wird viel eher als manch andere Komposition dem Anspruch gerecht, neue, unerhörte Klänge in den Konzertsaal zu tragen. Ob eine Chansoneuse herrlich schräg an den Begleitakkorden entlang eiert, ein Cellist auf einem rechteckigen Kasten nur leere Saiten anstreicht oder ein Prophet in weißem Gewand in breitestem Schwäbisch das Publikum anspricht: Gerade die Abweichungen von den Klangidealen des Konzertsaals öffnen buchstäblich die Wahrnehmung für die ganz andere Welt der Behinderten. Die Orchestermusiker tragen natürlich die Komposition, sind aber in besonderer Weise gefordert: Die Vorgaben der Behinderten sind zu wenig kontrollierbar, um wie gewohnt einfach vom Blatt zu spielen. Und auch deren Verhalten stellt zuweilen das Protokoll in Frage: wenn sie mittendrin aufstehen, sich unterhalten oder den Applaus unbedingt bis zum Ende auskosten wollen. Nicht weniger bemerkenswert ist ein am Vortag in Stuttgart vorgestelltes Projekt von Johannes Galette Seidl mit Jugendlichen aus dem Jugendhaus Hallschlag. Seit längerem hatten das Jugendhaus in einem Brennpunktbezirk Stuttgarts und Musik der Jahrhunderte eine Zusammenarbeit geplant. Mit Seidl war der geeignete Komponist gefunden. „Wir haben uns der Situation am Jugendhaus zunächst einmal ausgesetzt“, sagt Seidl, „haben versucht, eine Ebene der Kommunikation mit den Jugendlichen zu finden, die mit unseren Vorstellungen von Kunst und Neuer Musik bisher noch keine Berührung hatten.“

Heraus gekommen ist ein längeres Werk, in dem vier junge Leute Tätigkeiten vollführen, die im herkömmlichen Sinne mit Musik nichts zu tun haben: Karim Wehmann, im Türkei-T-Shirt, schneidet Gemüse, ist in Wirklichkeit Sozialarbeiter und stammt aus Marokko. Stanislav Ivanov lötet, wirft mit flinken Strichen Architekturzeichnungen aufs Papier und betreibt Kraftsport. Selda Keies spielt mit Gameboys, die sie anschließend in der Vorderzange ihrer Hobelbank zerquetscht und macht Bauchtanz. Videoleinwände über den Köpfen der Darsteller zeigen abwechselnd Handgriffe in Echtzeit und den Alltag der Jugendlichen. Zum Schluss möbliert jeder eine leere Wohnung nach eigenen Vorstellungen.

„Die Beschäftigungen werfen Bilder und Klänge ab, die von den Kameras und Mikrophonen eingefangen, fokussiert und vergrößert werden“, so beschreibt Seidl das Kompositionsprinzip. Mag der Blick auf die Werkbänke im ersten Moment die Frage aufwerfen, ob sich die Hochkultur hier im Konzertsaal einen voyeuristischen Blick auf die Unterschicht erlaubt, so zeigt sich bei näherer Betrachtung, dass die Jugendlichen, ähnlich wie Königs Behinderte, ihre eigene Welt hör- und sichtbar machen. Außer ein paar Klavierakkorden stammt von Seidl selbst nur die Komposition, also die Choreografie der Arbeit, unterstützt von der Dramaturgin Juliane Beck und dem Videokünstler Daniel Kötter. Die elektronische Musik, die die Mikrofonaufzeichnungen begleitet, stammt von Daniel Locher, einem der Jugendlichen, der am Abend der Aufführung leider nicht dabei sein kann. Hinter dem Titel „Falsche Arbeit“ stehen die Gedanken der Jugendhäusler zu kreativen, selbstbestimmten Lebensentwürfen, die sie auf der Bühne zur Diskussion stellen.

Zuhören können ist nach Scott Roller das Wesen der Improvisation. Der aus Texas stammende Cellist gibt mit seinen Mitstreitern Ulrike Stortz und Michael Kiedaisch seit vier Jahren Improvisationskurse. Durch die Förderung des Netzwerks Süd wurde daraus unlängst ein großes Projekt mit Malerei und Tanz und über 100 beteiligten Schülern. Ruhig zuhören ist nicht immer einfach, wie die Arbeit mit Siebt- und Achtklässlern der Grund- und Hauptschule Ostheim zeigt. Weiter entwickelt ist diese Fähigkeit in der zwölften Klasse des Geschwister-Scholl-Gymnasiums in Sillenbuch. Hier bringen die Schülerinnen und Schüler an Violine und Harfe, Gitarre und Laptop Beachtliches zuwege.

Vieles im Netzwerk Süd läuft auf eine intensive musikpädagogische Arbeit hinaus, die an sich einen kaum zu unterschätzenden Wert hat, deshalb aber nicht immer schon gleich für den großen Konzertsaal geeignet ist: Was für zwölfjährige Schüler eine große Leistung ist, muss ein verwöhntes Konzertpublikum noch nicht überzeugen. Immerhin haben König und Seidl gezeigt, dass es möglich ist, mit Behinderten und musikalisch unvorgebildeten Jugendlichen Werke aufzuführen, die sich in anspruchsvollen Programmen zeitgenössischer Musik ohne weiteres behaupten können.

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