Mannheim wurde von einem Marathon-Event strukturiert, ein großer Teil der Innenstadt abgeriegelt. Das Nationaltheater war nur unter Mühen zu erreichen, weshalb sich dann der Premierenbeginn etwas verzögerte. Und obwohl die neue Oper von Adriana Hölszky nur eineinhalb Stunden dauert, konnte man auch im Theater den Eindruck gewinnen, an einem Langstreckenlauf teilzuhaben. Zumindest an einem Ereignis, bei dem den HörerInnen Kraft abverlangt wird und sie gleichsam außer Atem kommen können.
„Böse Geister“ – dieses Werk bekundet, wie die Musik zu dem eine Woche zuvor uraufgeführten Düsseldorfer Tanzabend „Deep Fields“, wieder einmal bemerkenswerte Kraftentfaltung und erhebliches Gewicht. Im einen wie im andern Fall machte es die Komponistin ihren HörerInnen vorsätzlich nicht leicht. Generell ist dies nicht ihre Art. Hölszkys Musik ist seit jeher von schwerem Kaliber – bei allem Filigranen, das sie im Detail auch aufweist, und trotz der leichteren Luftzüge der „Raum-Musiken“.
Beschwerte sich die geistige Grundlage der „Deep Fields“ mit Texten von Hölderlin, Nietzsche und dem NS-Literaten Hanns Johst, so rekurriert „Böse Geister“ auf den 1873 abgeschlossenen Roman „Dämonen“ von Fjodor Dostojewski (1821–1881). Aus ihm vernahm die Komponisten ein Konzert von (abgründigen und bösen) Stimmen. Yona Kim, die Frau des Mannheimer Operndirektors Klaus-Peter Kehr, bearbeitete die rund tausend Dostojewski-Seiten zu einem Libretto von zwanzig Blatt.
Die in der Vorlage ausgebreiteten signifikanten Probleme der russischen Gesellschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts schrumpften auf Spotlights. Mit ihnen dringen brennpunktartig Angst, Selbstzweifel, Leidenschaften und Obsessionen aus dem Alltag von einst eruptiv an die Oberfläche und es skizziert sich ein großes Tragödien-Panorama. Es finden sich sehr markante und weit über die Entstehungszeit hinaus triftige Sentenzen in den Text-Inseln, die vom Kontinent des großen Romans übrig geblieben sind: „Das Verlangen macht Berge platt“, „Das böse Geistchen ist ein Buchhalter“ oder „Die große Idee stirbt auf der Landstraße“. Die in Lukas 8 berichtete Fabel vom Besessenen, den der Religionsgründer heilte, indem er die „bösen Geister“ aus ihm heraus und in eine Schweineherde fahren ließ (die dann kollektiven Suizid begangen haben soll), bildete den Ausgangspunkt des Dostojewski-Textes und wurde in die fünfte, die letzte Szene der Oper integriert.
Die aus Bukarest stammende, schon lange in Deutschland lebende und hier hoch dotierte Komponistin nutze, so die Ankündigung des Theaters, die „Kraftfelder“ der Textvorlage und lasse „die Dialoge der Hauptfiguren, die Figur des Stavrogin und das Reservoir der Chöre separat nebeneinander stehen“. Dies trifft zu: Die jeweils einen knappen Meter hohen Partiturseiten der neuen Oper schaffen eine Raum-Musik, deren drei konstituierende Momente räumlich voneinander getrennt ablaufen, sich „doppelchörig“ und responsorisch verhalten: Die Choristen, ganz hinten oben in den letzten Reihen des ansteigenden Zuschauerraums in Stellung gegangen, bilden einen unvermittelten Kontrast zum übrigen theatralen Geschehen vor und hinter dem Orchestergraben.
So entfaltet sich Raum-Theater auf drei Ebenen. Von hinten singt der von Tilman Michael trainierte und mit hoher Präsenz ins Gesamtgeschehen eingebrachte Chor den TheatergeherInnen ins Genick: Da dräut sich Aggressives zusammen und erhebt sich kollektive Bedrohung. Die Stimmen fahren drein wie Peitschenschläge, wüten wie Erinnyen, skandieren markant und gelangen zu ausuferndem Rufen. Hölszky hat zwei ältere Chorwerke, deren Texte absichtsvoll unverständlich bleiben, in die Partitur integriert: „Der nächtliche Fluss“ (und dies erklärt wohl die Partien des Auseinanderfließens der Chor-Lineatur und die wie an einem Ufer verhallenden Rufe) und „Stawrogins Bätter“ (dies verrät die Beschäftigung der Komponistin mit Dostojewskj über einen längeren Zeitraum). Man kann sich des Eindrucks kaum erwehren: Mit dem antikisierenden Einsatz des Chors kommen die „bösen Geister“ unmittelbar zum Ausdruck. Indem das Kollektiv von den Individuen im Raum und auf der Bühne isoliert agiert, vermittelt es auf evidente Weise die abgründigen Intentionen der Komponisten; ihre Stichworte sind: „Gefahr oder Lust“.
Die mittlere Ebene des Raumtheaters gehört Stawgorin, der desillusioniert aus dem Ausland heimkehrte, wo er ein „ausschweifendes Leben“ geführt haben soll, nachdem er in Petersburg „aus einer Laune“ die geistes- und gehbehinderte Marja geheiratet hatte (sie wird später, zusammen mit ihrem alkoholkranken Bruder, ermordet – Regisseur Joachim Schlömer lässt die Leichen mit Klebestreifen an eine Holzwand heften und so einen der Kollateralschäden des Bösen zur Schau stellen). Steven Scheschareg ist als Sohn aus reichem Haus eine starke Figur und Stimme. Mit der deklamiert er Tagebuch-Fragmente, ohne dass sich daraus eine narrative Linie ergäbe. Es sekundieren ihm drei langhaarigblonde stumme Matrjoschas, die mit dicken Stricken um die Hälse Selbstmord üben und barfuß auf die Bühne eilen, wo sie immer wieder zwischen den übrigen Paaren und Passanten herumwuseln und junges Leben versprühen.
Jens Kilian hat zwei Holzhäuser auf die Hauptbühne bauen lassen, die – sich drehend – bei sorgfältig wechselndem Licht immer wieder neue Einblicke in die guten Stuben zulassen. Ausgestattet sind sie mit Seidentapeten, allemal dem selben Frauenportrait in Öl und feinem Nussbaummobiliar. Es ergeben sich Ausblicke auf das keineswegs immer harmonische Familienleben. Die Altistin Evelyn Krahe gibt die reiche Witwe Warwara energisch und Zvi Emanuel-Marial den herrschsüchtigen Pjotr (keine neue Oper ohne Counter oder Altus!). Portionsweise kommt die Illusion einer Gesellschaftsfamilienanamnese auf. Überwiegend wirken die Szenen surrealistisch. Von schlichter Narration ist die Inszenierung des Choreographen Schlömer jedenfalls weit entfernt: Das Nonverbale, Atmosphärische und der Sound verweisen auf Unheil. Eben „das Böse“, das auch im Namen der Nächstenliebe nicht aus der Welt weichen will.
Das Orchester unter der Leitung des gewaltig geforderten Roland Kluttig hat mit Flöten und Geigen wenig im Sinn. Die hohen Streicher müssen vor allem Pausen zählen und nur gelegentlich, dann aber gut platziert, einen Streich tun (dergleichen kann sich als tückisch schwer erweisen). Der Graben ist vor allem von den Aktionen des Schlagwerks erfüllt, intensiv und facettenreich. Unaufhaltsam treidelt der Problemmusiktheaterabend der Entzweiung, dem Verderben und Tod zu. Dafür findet Adriana Hölszky eine drastische neoexpressive Tonsprache. Dass sie zuletzt – für die Düsseldorfer Uraufführung mit dem Choreographen Martin Schläpfer – auch auf den in der Zeit des ersten Weltkriegs ausgeprägten hochexpressiven Sprachduktus von Hanns Johst zurückgriff, mag in Unkenntnis der verbrecherischen Biographie dieses Literaten geschehen sein. Wenn nicht, wäre dies dahingehend delikat: dass der langjährige Präsident der NS-Reichsschrifttumskammer nun, wie so vieles Rechtsradikale, jetzt in Europa wieder salonfähig gemacht werden soll. Dem Geist des Ausdruckswollens, den Hölszky da gerufen hatte, ließ sie in Mannheim auf politisch unbedenkliche Weise freien Lauf. Aber böse Geister können, das gehört wohl zu ihren Wesensmerkmalen, so unberechenbar sein, dass auch Google noch keine „Analyse von Lebensmustern“ generieren konnte und ihnen die Musik besser auf die Schliche kommen kann als die NSA.