Fünfundvierzig Tage Salzburger Festspiele 2013. Soviel Kunst gibt’s gar nicht – hätte Max Liebermann gesagt. Er zielte damit zwar auf die Bilderflut der „Großen Münchner“, aber der Ausspruch darf Allgemeingültigkeit beanspruchen. Also: soviel Festspiel gibt’s gar nicht. Der Intendant der Salzburger Festspiele, Alexander Pereira, hat diese noch um eine gute Woche nach vorn verlängert, indem er dem Programm eine „Ouverture spirituelle“ voranstellte, geistliche Musik aus fremden Kulturen, die mit Werken unserer christlichen Kultur korrespondieren. Musste das sein? Der enorme Publikumszuspruch, den alle Konzerte erfuhren, beantwortet die Frage: Offensichtlich besteht ein großes Bedürfnis nach einer Kunst, die nach Innen führt, die den Menschen existentiell und emotional tiefer zu berühren vermag.
Braucht man dazu Festspiele? Nein und ja! In fast jeder deutschen Stadt, große, mittlere, auch kleine, gibt es im Jahr ein durchaus ansehnliches Kulturangebot, auch und gerade in der Musik. Also nein, keine Festspiele. Zur Erfahrung und Verarbeitung künstlerischer Ereignisse gehört aber auch Zeit, die im Alltag immer weniger gegeben ist. Ein Festspiel verschafft uns diese Zeit. Man tritt für einige Tage oder auch Wochen aus seinem gewohnten, oft gehetzten Trott hinaus, kann sich entspannen, sich konzentrieren auf Dinge, die einem wichtig sind, für die man sonst nur wenig Zeit hat.
Die Salzburger Festspiele bieten jedem einzelnen hervorragende Möglichkeiten, sich in dem beschriebenen Sinn für eine bestimmte Zeit ein eigenes Programm auszuwählen. Als weltweit ausstrahlendes, mit Oper, Konzert und Schauspiel reich bestücktes Festspiel wächst ihm in den jetzigen Tagen eine weitere, ganz wichtige Aufgabe zu: den Anspruch unserer Kunst und Kultur an die Gesellschaft, die diese Kultur schließlich in Jahrhunderten in zahlreichen Meisterwerken geformt und dokumentiert hat, immer wieder mit Energie und Überzeugungskraft anzumelden und gegen die zunehmende Erosion, sei es in der Kulturpolitik oder in den vornehmlich auf Einschaltquoten bedachten Medien zu verteidigen. Ein Festspiel wie Salzburg könnte in dieser Hinsicht auch zu einer ständigen Identitätsfindung dienen: als ein besonderes Abbild unserer abendländischen Kultur- und Geistesgeschichte. Hugo von Hofmannsthal hat das, die Schreckensbilder des Ersten Weltkriegs vor Augen und im Herzen, ähnlich gesehen. Daran müsste auch Salzburg sich immer wieder erinnern. Es wird in Europa zwar nicht mehr mit Munition geschossen, aber die gedankenlosen Sparkommissare überall schießen dafür mit ihren Rotstiften auf die Kulturetats und damit auf die Menschen, für die Kunst und Kultur mehr bedeuten als Zerstreuung und Unterhaltung.
Man muss die Salzburger Festspiele immer auch daran messen, inwieweit sie den beschriebenen Anspruch erfüllen. Die enorme Quantität der Veranstaltungen, bei Alexander Pereira noch einmal gesteigert, kann dafür nicht das alleinige Kriterium sein. Das gern zitierte „Wer vieles bringt, wird manchem etwas bringen“ (Goethe) sollte nicht genügen. Es gibt auch Probleme, die von einem Festspiel nicht alleine gelöst werden können. Dazu gehört in Salzburg der zentrale, auch finanziell (hohe Eintrittspreise) wichtige Opernkomplex. Die Festspiele unterhalten kein festes Operntheater. Sie müssen sich alles zusammenengagieren: Dirigenten, Sänger, Regisseure, Bühnenbildner et cetera.
Eine gewisse Konstante bildet nur das Orchester: die Wiener Philharmoniker für die wichtigsten großen Werke. Diese Konstellation bedingt zwangsläufig, dass Opernaufführungen in Salzburg nicht besser oder schlechter sind, als an den Zulieferer-Opernhäusern. Deshalb fehlt es den Opernproduktionen an einer speziellen Salzburger Dramaturgie und ästhetischen Ausrichtung. Jedes Team pusselt so vor sich hin, ob Peter Stein bei Verdis „Don Carlo“, Stefan Herheim bei seinen romantisch-märchenhaften „Meistersingern“ oder Schauspielchef Sven-Eric Bechtolf bei Mozarts „Così fan tutte“, die man von ihm, etwas anders dekoriert, schon in Zürich gesehen hatte. Das geht nun eigentlich gar nicht: Mozarts Opern müssten in und für Salzburg besonders „einmalig“ herausgebracht werden – als Stil- und Markenzeichen jeweils für mehrere Festspieljahre. Salzburg fühlt sich immer wieder auch verpflichtet, eine neue Oper als Uraufführung zu präsentieren.Wer allerdings dem Komponisten György Kurtág dafür einen Auftrag erteilt, muss damit rechnen, dass dieser nicht fertig wird. Birtwistles „Gawain“, 1991 uraufgeführt, war dafür als Ersatz eher eine Verlegenheitslösung. Eine dringende Wiederbegegnung mit Haubenstock-Ramatis Kafka-Oper „Amerika“ wäre sicher ertragreicher gewesen. Auch René Leibowitz hat sechs Opern komponiert, die noch auf ihre Uraufführung warten.
Wie wichtig Salzburg mit seinen Festspielen für die weiter oben skizzierte Kulturszene überhaupt sein kann, demonstrierte der Auftritt des Sinfonieorchesters des Südwestdeutschen Rundfunks unter Michael Gielen mit Mahlers sechster Sinfonie. Das Konzert geriet zu einer einzigartigen Demonstration für die Wichtigkeit dieses Orchesters, das bekanntlich von der Auflösung und zweifelhaften Überführung in ein nebulöses Großorchester, zusammen mit dem Radio-Sinfonieorchester Stutt-gart, bedroht ist. Darüber und über das Konzert in Salzburg wurde schon in der letzten Ausgabe der nmz berichtet.
Im Gegensatz zu den Operndarstellungen wirkte in Salzburg das Konzertprogramm perspektivisch reicher, vielfältiger und auch in der Qualität der einzelnen Aufführungen festspielreifer. Die Idee, das venezolanische El-Sistema-Projekt mit drei sinfonischen Orchestern, nach Altersstufen besetzt, zu den Festspielen einzuladen, erwies sich als belebender Glücksfall. Die jugendliche Begeisterung steckte auch routinierte Festivaliers an, und für die jungen Musiker aus dem sozialen Problemland Venezuela dürfte der Festspielauftritt als zusätzliche Auszeichnung und damit gesteigerter Motivation gedient haben.
Etwas problematisch blieb dagegen, dass Alexander Pereira den Orchestern insgesamt vier Sinfonien im großen Mahler-Zyklus angedient hatte, darunter die anspruchsvolle „Achte“. Der Dirigent Gustavo Dudamel ist ein temperamentvoller Vollblutmusiker, aber damit allein kommt man Mahlers Komplexität im Formalen, in der ebenso raffinierten Klanggestaltung nicht nahe. So musste man sich bei anderen Orchestern und Dirigenten über die „richtige“ Mahler-Interpretation informieren: bei Gielens durchgeistigter „Sechster“, bei der von Mariss Jansons mit den BR-Sinfonikern hinreißend musizierten und ausgeformten „Auferstehungs“-Sinfonie (zweite in c-Moll), bei Riccardo Chaillys „Neunter“ mit dem Leipziger Gewandhausorchester. Und ausgerechnet die jüngsten Venezolaner, die Acht- bis Zwölfjährigen, trafen bei der ersten Sinfonie den Mahler-Ton am treffendsten, weil der Dirigent Simon Rattle hieß, der etwas von Mahlers Musik versteht und auch gut vermitteln kann.
Seit Hans Landesmann und Gerard Mortier nimmt in Salzburg die Neue Musik den ihr gebührenden Teil am Programm ein. Daran hat sich auch bei Alexander Pereira nichts geändert. „Salzburg Contemporary“ heißt ein Komplex mit Musik unserer Zeit. Diesmal mit einem japanischen Schwerpunkt, weil das Thema der „Ouverture spirituelle“ den Buddhismus und dessen musikalische Äußerungen umfasste. Etliche Werke von Toshio Hosokawa und Toru Takemitsu vermittelten einen informativen Überblick von „Japan heute“ und seinen profiliertesten Komponisten. Daneben kam aber auch das Abendland zu Wort und Ton. Friedrich Cerha, inzwischen achtundachtzig Jahre alt, entdeckte den Schlagzeuger Martin Grubinger und dessen „The Percussive Planet Ensemble“. Nach dem vor drei Jahren uraufgeführten Konzert für Schlagzeug und Orchester, das inzwischen sogar zum Repertoirestück der Wiener Philharmoniker avanciert ist, gab es diesmal als Uraufführung Cerhas „Étoile“ für sechs Schlagzeuger. In einer Art Raumklangkonzept erklang ein furioses Stück vitaler Musik, mit komplizierter Rhythmik, wahren Klangwundersubtilitäten und einem ungeheuren Drive, der den Komponisten eher als zwanzigjährigen Rockmusiker erscheinen ließ. Hinreißend!
Ein anderes „Kunstprojekt“ im „Contemporary“ erschien daneben eher beruhigend. Zwölf Komponisten betrachteten Kunstobjekte, die von der rührigen „Salzburg Foundation“ im Laufe der Jahre gestiftet und nicht immer zur Freude der Einwohner im öffentlichen Raum aufgestellt worden sind, und setzten zu den Plastiken, Bildern, Objekten ihre deutenden Noten. Das Scharoun Ensemble, komplettiert durch weitere Berliner Philharmoniker, setzten sich engagiert und aufmerksam unter der Leitung des Komponisten Matthias Pintscher für die zwölf Novitäten ein. Während auf einem Bildschirm das jeweilige Kunstobjekt erschien, erklang dazu die musikalische Interpretation. Unter den Komponisten fanden sich immerhin sehr prominente Namen: Außer Pintscher waren dies Olga Neuwirth, Mark Andre, Bruno Mantovani, Vykintas Baltakas, Michael Jarrell, Johannes Maria Staud, Jay Schwartz, die schon bei anderer Gelegenheit bewiesen haben, dass sie interessante Musik schreiben können.
Wie aber komponiert man „Gurken“, die Erwin Würth einmal, im Dutzend attraktiver, in Reihe am Furtwänglerpark aufgestellt hat. Nina Šenks klingende Deutung für Sopran und Ensemble hörte sich nett an --- als „Gurke“ bezeichnet man in der Automobilbranche auch gern ein gebrauchtes Fahrzeug. Eine gewisse deutende Substanz besaßen nicht unerwartet die Beiträge von Neuwirth, Andre, Pintscher, Jarrell und Staud. Pintscher betätigte sich auch als Dirigent des Schauroun Ensembles – sehr sicher und hilfreich für die Musiker.
Einen Blick in die Zukunft der Oper wagten die Festspiele mit Mozarts „Entführung aus dem Serail“. Nicht im traditionellen Theater, sondern auf dem Salzburger Flughafen, in einem großen Hangar. Schon die Besichtigung einer Probe sorgte für Verwirrung: überall Kabel, Kameras, Scheinwerfer, Kopfhörer, große und kleine Flugzeugveteranen, Laufstege, Schneiderwerkstätten, Fotoshooting-Sets. Die Geschichte der alten „Entführung“ wurde zu einer neuen der „Verführung“ umgetextet. Konstanze, bürgerlich-brav mit Belmonte befreundet, wird von der mondänen Welt eines Modezaren namens Bassa Selim magisch angezogen und zwischen ihren beiden Verehrern hin und her gerissen.
Wer die Handlung aus der richtigen Oper kennt, kann in etwa folgen, wer nicht, muss sich am technischen Aufwand delektieren. Allein die Bühne stellt jedes Opernhaus in den Schatten: 14.000 Quadratmeter werden bespielt, in einem zweiten Hangar findet das Orchester Platz, die Sänger müssen mit Ear-Steckern Kontakt zum Dirigenten halten, auf der riesigen Fläche zwischen den beiden Hangars erstreckt sich ein Laufsteg, Monitore und Subdirigenten, die den umherwandelnden Sängern die Einsätze geben – ein Triumph medialer Techniken. Wer alles auf einmal hören und sehen will, muss sich ganz einfach zu Hause vor den Bildschirm setzen, denn für das Fernsehen ist das ganze Unternehmen überhaupt inszeniert. Zwanzig unterschiedliche Modelle, darunter Seil- und Krankameras, Arbeitskameras, die den Kontakt zwischen Dirigent und Subdirigenten herstellen, mehr Kameras geht kaum. Nichts bleibt unentdeckt für den Zuschauer am Fernseher.
Für diese Zukunft der Oper haben sich ein Privatsender und die Festspiele gemeinsam eingesetzt. Hat diese Zukunft eine Zukunft? Wer Mozart und seine „Entführung“ schätzt und ihren seelischen Reichtum liebt, der braucht keinen technizistischen Überbau. Wer sich Oper nur noch als Event vorstellen kann, für den stellt sich die Zukunft offen dar. Für die Festspiele selbst möchte man sich wünschen, dass sie bei aller Experimentierlust und dem Bemühen um ein neues, junges Publikum die alten Stücke nicht vergessen. Es gibt nichts besseres. Das sagte schon Verdi.
Die Salzburger Festspiele bestehen natürlich nicht nur aus Neuer Musik und Experimenten. Für die traditionellen Programmteile gibt es mehr als genug. Die Konzerte der Wiener Philharmoniker, diesmal ein wenig blässlich in der Summe, die hörenswerten Mozart-Matineen im Mozarteum, die Soloabende mit bekannten und berühmten Interpreten, die Gastorches-ter – alles wie immer, oft wunderbar, oft auch mäßig – so ist nicht nur das Leben, auch die Kunst.
Ein Stück wird in Salzburg allerdings schon seit längerem zum allgemeinen Verdruss gespielt: „Intendant gesucht“, so der Titel. In immer kürzeren zeitlichen Abständen werfen die Intendanten den Bettel und gehen woanders hin. Schon Mortier hatte Ärger, hielt aber zehn Sommer durch, Peter Ruzicka dankte nach fünf Jahren höflich ab, Jürgen Flimm quittierte sein Amt schon nach vier Jahren verärgert und ging nach Berlin an die Staatsoper. Sein Konzertchef, Markus Hinterhäuser, führte das fünfte Flimm-Jahr triumphal zu Ende und qualifizierte sich als zukünftiger Intendant.
Unter Flimm hat er dem Konzertprogramm spannende Konzerte zugeführt, davor brachte er unter Landesmann sein „Zeitfluss“-Festival produktiv in die Festspiele ein. Er kennt diese also sehr genau und würde sie programmatisch in eine spannende Zukunft führen, weil er die Geschichte unserer Musik bestens kennt und weiß, dass auch die sogenannte Moderne Teil und Fortsetzung dieser Geschichte ist. Wenn diese nmz erscheint, ist in Salzburg wahrscheinlich schon die Entscheidung gefallen. Hoffentlich die richtige.
PS: Die Entscheidung fiel in den Redaktionsschluss: Markus Hinterhäuser ist ab 2017 neuer Intendant der Salzburger Festspiele.