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Niklas Liepe und das Stuttgarter Kammerorchester bei den „Goldberg Reflections“. Foto: Ansgar Klostermann

Niklas Liepe und das Stuttgarter Kammerorchester bei den „Goldberg Reflections“. Foto: Ansgar Klostermann

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Brauchen wir Musik? Und wenn ja, welche? Eindrücke im Umkreis des Rheingau-Musik-Festivals

Vorspann / Teaser

Der erste Konzertsommer nach Corona macht neugierig. Gibt es eine Rückkehr zur Normalität? Oder bricht das Publikum weg? Spürt man einen Aufbruch zu Neuem? Braucht unsere Gesellschaft das althergebrachte Konzertwesen überhaupt noch? Ein – zugegeben selektiver – Blick auf Konzertereignisse beim Rheingau-Musik-Festival und dessen südwestdeutscher Nachbarschaft zeigt ein differenziertes Bild.

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„Wir waren noch nie so erfolgreich!“ sagt Festival-Intendant Michael Herrmann zur Eröffnung des Rheingau-Musik-Festivals in der Basilika von Kloster Eberbach. 110.000 verkaufte Eintrittskarten bei gut 140.000 Plätzen für 164 Konzerten an 29 Spielstätten sind in der Tat eine stolze Vorverkaufsbilanz! Und anders als in den letzten Jahren, als die Programmplanung eher „auf Nummer sicher“ zu gehen schien, zeichnet sich in diesem Sommer auch eine Öffnung zu Unkonventionellem ab. Ein rein französisches Programm zum repräsentativen Festivalbeginn etwa wäre früher undenkbar gewesen. Zu danken ist es wohl Alain Altinoglu. Der gebürtige Franzose mit armenischen Wurzeln ist seit zwei Jahren Chefdirigent des HR-Sinfonieorchesters, das traditionell das Eröffnungskonzert bestreitet. Hector Berlioz’ Ouvertüre „Le carnaval romain“ op. 9, Édouard Lalos „Symphonie espagnole“ op. 21 und Françis Poulencs „Stabat Mater“ sind Randerscheinungen im deutschen Konzertbetrieb. Abschreckend auf das Publikum wirkt das offensichtlich nicht. Boris Rhein, als hessischer Ministerpräsident zugleich Schirmherr des Festivals, zeigt sich in seiner Eröffnungsansprache sogar ausdrücklich erfreut über den kulturellen Brückenschlag nach Frankreich, dem er auch eine politische Bedeutung zumisst. Als einstiger hessischer Minister für Wissenschaft und Kunst durchaus kulturaffin, lobt er das HR-Sinfonieorchester als eines der weltbesten und zudem sein „absolutes Lieblingsorchester“. Bei der nächsten Sparkampagne gegen die Rundfunk-Orchester kann man vielleicht daran erinnern.

„Das ist nicht eine Geschäftsidee hier!“ freut sich der hessische Ministerpräsident zudem über den Idealismus von Hermann und seinem Co-Geschäftsführer Marsilius Graf von Ingelheim, die das Festival zum allergrößten Teil über Sponsorengelder und Eintrittskarten finanzieren. Geradezu begeistert zeigt sich Ex-Bundespräsident Joachim Gauck als bisher prominentester Festredner einer Eröffnung: „Ist das schön, hier zu sein“, ist sein erster Satz, und er erklärt ihn politisch: Das Festival in dieser gesegneten Region sei ein Beispiel für die funktionierende Zivilgesellschaft im Südwesten; Deutschland, und er hoffe, dass es dereinst in seiner nordostdeutschen Heimat auch einmal so weit komme. Seine eigentliches Anliegen ist die Frage nach der Legitimation von Kunst und Kultur in Krisenzeiten. Darf man angesichts von Hass, Krieg und Vernichtung in Europa noch ein solches Fest feiern? Musik sei kein Akt der Weltflucht, sagt Gauck, denn sie weiche auch der Begegnung mit Ernst und Tod nicht aus. Sie könne Abgründe und Zweifel am Sinn des menschlichen Lebens nicht auslöschen, sie könne aber Menschen verwandeln und zu einer „Dennoch-Existenz“ ermutigen. „Tief in uns wird ein Ich stabilisiert und stark gemacht.“ Kunst helfe uns, neue Hoffnungen, Ziele und Kräfte zu gewinnen. „Ich nenne das Daseins-Gewissheit.“

Gaucks Ansprache, die er am Folgetag zum selben Konzertprogramms wiederholt, passt zur musikalischen Dramaturgie des Abends. Berlioz’ kurze Ouvertüre ist in ihrer Mischung von wildem Fastnachtstaumel und lyrischem Empfinden der rheinischen Mentalität nicht fremd. Bei Lalos „Symphonie espagnole“, eigentlich einem Violinkonzert mit sinfonischem Orchesterpart, gibt es nach den ersten drei Sätzen Zwischenapplaus; etliche Besucher sind entweder mit den Konventionen des Konzertbetriebs nicht vertraut, oder sie vergessen über die Musik die Konvention. Der junge brasilianische Geiger Guido Sant’Anna, Gewinner des Internationalen Fritz-Kreisler-Wettbewerbs 2022, spielt mit einer für seine 17 Jahre beachtlichen emotionalen Tiefe, einem in allen Lagen warmen Tonfall und einer erstaunlichen leichthändigen Virtuosität. Einzig dem 2. Satz („Scherzando“), hätte ein wenig mehr Witz gut angestanden. Bemerkenswert ist das intensive Ineinandergreifen von Soloinstrument und Orchester, dem das Werk seinen Titel verdankt. Alain Antinoglu versteht es, die Musik ebenso partnerschaftlich wie klangsensibel zu entfalten.

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Alain Antinoglu und Guido Sant’Anna im partnerschaftlichen Musizieren beim Eröffnungskonzert. Foto: Ansgar Klostermann.

Alain Antinoglu und Guido Sant’Anna im partnerschaftlichen Musizieren beim Eröffnungskonzert. Foto: Ansgar Klostermann.

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Trotz des stellenweise spanischen Kolorits steht Lalos Werk der deutschen Sinfonie-Tradition erstaunlich nahe. Der ernsthafte Duktus in der dramatischen Tonart d-Moll erinnert an Mendelssohn und Schumann, und die fünfsätzige Anlage (mit Bläserchoral im 4. Satz) hat ihr Vorbild auch eher in Schumanns „Rheinischer Sinfonie“ als in Berlioz’ „Symphonie Fantastique“. Ausgelassenheit spürt man eigentlich nur im Finale.

In Poulencs „Stabat Mater“ für Solo-Sopran, gemischten Chor und Orchester aus dem Jahr 1950 findet man ein musikalisches Pendant der von Joachim Gauck beschworenen Ungewissheit. In einer für das religiöse Sujet ganz ungewöhnlichen Weise wechselt die hochdramatische Partitur zwischen Trauer und Entsetzen, Zorn und Verklärung – und einem Anflug von Heiterkeit. Poulenc verbindet unterschiedliche stilistische Ebenen und spielt mit unterschiedlichen Konstellationen von Solosopran, fünfstimmigem Chor und groß besetztem Orchester. Mal setzt er auf Klangsynthese, dann wieder auf Kontrast, und einen der frappierendsten Effekte finden wir gleich im ersten der 12 Sätze, als über dem verklingenden Orchester auf dem Wort „pendebat“ („hing“) der A-cappella-Klang buchstäblich „hängen bleibt“. Der MDR-Rundfunkchor aus Leipzig zeigt sich für diese umfassende Herausforderung bestens disponiert, und Alain Altinoglou am Pult lässt alle Facetten des Stückes deutlich hervortreten. Vannina Santonis Sopranstimme verbindet Souveranität in der Höhe mit einem Anflug von Schärfe, der zum aufgewühlten Duktus des Werkes gut passt. Dass der letzte Akkord im Schlusssatz, der die Hoffnung auf das Paradies beschwört, mit einer deutlich wahrnehmbaren Sekund-Reibung im Orchester schließt, lässt unaufgelöste Spannung im Raum stehen. Mit einem gewissen Mut wird an diesem Abend das Publikum zu neuen Erfahrungen eingeladen, und die Hörer lohnen es mit erhöhter Konzentration in der zweiten Konzerthälfte.

Der Trend zum (vermeintlich) Populären

Eher die gegenteiligen Erfahrungen vermittelt ein zweiter Konzertabend in der Eberbacher Basilika. Hier ist – in erfreulicher, langjähriger Festival-Tradition – die Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt (HfMDK) zu Gast mit einem Programm „God save the King!“; dessen Untertitel lautet: „Georg Friedrich Händels Coronation Anthems und Friedensmusiken von barocken Komponisten“. Die Ankündigung verheißt Aktualität: Schließlich haben die Trauerfeier für die britische Königin Elizabeth II. und die Krönung ihres Sohnes Charles III. in den vergangenen Monaten das Interesse an der Musik zu derlei Zeremonien geweckt; und „Frieden“ ist mit dem Ukraine-Krieg als politisches Ziel und menschliche Sehnsucht in den Vordergrund gerückt.

Von Georg Philipp Telemanns Serenata „Deutschland grünt und blüht im Friede“, die dieser 1716 in Frankfurt anlässlich der Geburt des österreichischen Erzherzogs Leopold schrieb, erklingt mit der festlichen Ouvertüre, einem Concerto Grosso in D-Dur, nur der höfisch-repräsentative Teil. Und die beiden Orchestersuiten von Georg Muffat aus den Jahren 1682 und 1695 haben zur Thematik keinen direkten Zusammenhang. Allerdings schrieb Muffat im Vorwort zu seiner Sammlung „Florilegium Musicum“ („Musikalische Blütenlese“) 1695 den bemerkenswerten Satz: „Und während ich französische mit deutschen oder italienischen Melodien verbinde, beschwöre ich nicht den Krieg, sondern vielleicht eine Nation voller Hoffnung auf Harmonie, vielleicht ein Präludium auf den geliebten Frieden.“ Dass dieses Bekenntnis zur zivilisierenden Wirkung der Musik auf dem Hintergrund von Pfälzischem Erbfolgekrieg und Großem Türkenkrieg abgelegt wurde, hätte man im Programmheft erwähnen können. Zweifellos finden wir in den Instrumentalwerken reizvolle Klangeffekte und -kombinationen; die Cappella Academica Frankfurt unter Leitung von Eva Maria Pollerus nimmt instrumentale Virtuosität auf hohem Niveau wichtiger als den unterschiedlichen Charakter der verwendeten Tanz- und Ausdrucksmodelle. Tempo geht hier über Affekt, und die spürbare Anstrengung der Musizierenden richtet sich eher auf die technischen Herausforderungen des Zusammenspiels als auf den kommunikativen Gehalt.

Dies gilt auch für den von Florian Lohmann geleiteten Hochschulchor bei Händels vier Krönungshymnen. Das Desinteresse an der inhaltlichen Botschaft geht dabei so weit, dass nicht einmal mehr die Texte im Programmheft abgedruckt sind. Dabei dienen die Coronation Anthems ja nicht nur der Verherrlichung des Herrschers, sondern verpflichten ihn seinerseits auf Gottes Gebot, auf Recht und Gesetz. „Zadok the Priest“, dessen markanter Beginn Modell stand für die populäre heutige UEFA-Hymne, verweist dazu noch auf den Unterschied zwischen einem Usurpator und einem rechtmäßigen Herrscher; man schlage dazu den biblischen Kontext im Ersten Buch Könige nach. Weder ist das bedingungslos respektvolle Aufschauen zum Thron ein Anliegen dieser Musik, noch die bedingungslose Bewunderung instrumentaler oder vokaler Virtuosität. Als Zugabe bekommt das Publikum den ziemlich rasant vorgetragenen „Halleluja“-Chor aus dem „Messias“. Aber was sagte Händel nach diesem Oratorium? Es gehe ihm nicht nur darum, die Leute zu unterhalten; er wolle sie auch bessern. („I should be sorry if I only entertained them, I wish to make them better.“)

Filmmusik und Musik für Filme

Geht es im aufgeheizten Binnenklima von Musikhochschulen eher um das Wettbewerbsmotto „Schneller, höher, weiter“ als um die Sprachfähigkeit und Verständlichkeit von Musik? Und erübrigt die Popularität einer Musik die Frage nach der Interpretation? Anscheinend auf die populäre Karte setzt – 70 km rheinabwärts – das Staatsorchester Rheinische Philharmonie in Koblenz bei der Feier der 50-jährigen Übernahme in die Trägerschaft des Landes Rheinland Pfalz. In der Mitte des Programms steht Filmmusik: Eine eingängige viersätzige Suite aus John Williams’ Musik zu „Star Wars“. Eingerahmt wird sie allerdings von György Ligetis Klangfarben-Stück „Atmosphères“ aus dem Jahr 1961 und Gustav Holsts Suite „Die Planeten“, und vorgetragen wird sie in durchaus ernsthafter Musizierhaltung: Chefdirigent Benjamin Shwartz geht es hörbar darum, selbst in der genrebedingten plakativen Filmmusik-Partitur die Feinheiten herauszuarbeiten. Die für Koblenzer Verhältnisse mutige Kombination zieht ein zahlreiches und altersmäßig gut durchmischtes Publikum an. Der Spannungsbogen von Holsts „Planeten“ überfordert allerdings einen Teil der Hörer. Noch hinnehmbar erscheint Applaus zwischen den Sätzen, nicht aber mitten im „Uranus“-Satz und in das leise Verklingen des Frauenchors am Schluss von „Neptun“. (Darüber beklagen sich die jungen Interpretinnen der Mädchenkantorei der Singschule Koblenz im Foyer nachher lebhaft.)

Programmheft-Autor Oliver Buslau stellt den Abend in den inhaltlichen Kontext „Weltraum“ – angefangen mit der Verwendung von „Atmosphères“ in Stanley Kubricks Film „2001 – Odyssee im Weltraum“. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt das Rheingau Musik Festival, wenn es Ende August Holsts „Planeten“-Suite mit Filmmusiken und zusätzlich Bildmaterial aus der modernen Weltraumforschung kombiniert. In den Hintergrund gerät dabei, dass das Werk von der Astrologie her inspiriert ist und man hinter den Himmelskörpern eine Typologie menschlichen Wesens und Verhaltens finden kann. Brutaler Durchsetzungswillen bei Mars, freundliche Zuwendung bei Venus, Geschäftigkeit ohne wirkliche Substanz bei Merkur, joviale Selbstsicherheit bei Jupiter, zunehmende Starrheit bei Saturn, mephistophelische Versuchung bei Uranus, Transzendenz-Erfahrung bei Neptun – all das lässt sich heraushören und verweist nicht etwa auf eine instrumentelle Vernunft, die sich den Weltraum auch musikalisch unterwirft, sondern auf die uralte ganzheitliche Vorstellung, dass Himmel und Erde miteinander in Beziehung stehen. Das könnte ein Publikum ja auch heute noch interessieren.

Bemerkenswert beim Koblenzer Jubiläumskonzertes sind die beiden kurzen Ansprachen von Intendant Günter Müller-Rogalla und der für Kultur zuständigen Staatsministerin Katharina Binz, aus denen beiderseits Anerkennung für das Erreichte und das Bemühen um Harmonie sprechen. Müller-Rogalla erinnert allerdings an den erfolgreichen Widerstand von Konzertpublikum und Stadtgesellschaft gegen die rheinland-pfälzische Orchesterstrukturreform vor 20 Jahren, und Binz bekennt sich ausdrücklich zu den Staatsorchestern in Ludwigshafen, Mainz und Koblenz. – Auf andere Weise beteiligt ist das Land Rheinland-Pfalz am Festival „Rhein vokal“. Das ist ein kleineres, aber interessantes linksrheinisches Pendant zum Rheingau-Musik-Festival mit diesmal 18 Konzerten am Mittelrhein zwischen Ingelheim im Süden und Andernach im Norden. Getragen wird es vom Südwestrundfunk, dem Verein der RheinVokal-Kommunen und der (staatlichen) Villa Musica Rheinland-Pfalz, die ihrerseits der Förderung junger Musiker(innen) dient. Stipendiaten haben hier drei Jahre Gelegenheit, mit erfahrenen Dozenten gemeinsam zu proben und zu konzertieren – in der Regel im kammermusikalischen Rahmen.

Der Trend zur Bearbeitung – unabhängig von Corona-Vorschriften

Wenn „Rhein vokal“ nun unter dem Titel „Beethovens Neunte“ in die moderne Ingelheimer Kultur und Kongresshalle kING – sozusagen das moderne Gegenstück zur alten Zisterzienserabtei Eberbach auf der anderen Rheinseite – lädt, geht es um die Erstaufführung einer Kammermusik-Fassung, mit der die Villa Musica noch vor der Corona-Pandemie den Komponisten und Dirigenten Pedro Halffter für das Beethoven-Jahr 2020 beauftragt hat. Halffters Arrangement kombiniert ein klassisches Bläserquintett, ein Streichquintett (mit Kontrabass) und Klavier. Mit der Publikation dieses Arrangements, schreibt Programmheft-Autor Karl Böhmer, hole der Musikverlag Schott „quasi ein uneingelöstes Versprechen nach“. Eine 1826 angekündigte Streichquartett Besetzung kam nämlich nie heraus – was angesichts der routinesprengenden Dimension des Originals im Grunde nicht verwundert. Wenn der Verlag in seiner Ankündigung vom Juni 2023 allerdings damit argumentiert, die Vorlage verliere durch Halffters Bearbeitung nicht „an klanglicher Größe“, denn Sinfonien seien „meist für Fürsten und Könige geschrieben“ und „eigens für sie und ihr Umfeld gespielt“ worden, so liegt er in diesem Fall eindeutig falsch: Beethovens „Neunte“ war ein Kompositionsauftrag der Royal Philharmonic Society in London und wurde im Wiener Kärtnertor-Theater uraufgeführt.

Anziehend wirkt dieses Programm nur auf einen begrenzten Kreis. Ein älterer Musikliebhaber, selbst ausgebildeter Musiklehrer, benennt im Gespräch dezidiert sein Hör-Interesse: Bleibt der menschheitsumfassende Appell des Werkes in der Bearbeitung erhalten? Und werden die Strukturen deutlicher? Zumindest was die Ingelheimer Aufführung betrifft, lautet die Antwort: Weder – noch. Möglicherweise liegt es an fehlender Probenzeit, dass Halffter die Aufführung in ausgreifenden Dirigierbewegungen von vorne bis hinten geradezu durchexerziert. Dass der „vorausahnenden“ Instrumental-Version des Rezitativs „O Freunde, nicht diese Töne“ jedes Gespür von Phrasierung abgeht, verwundert spätestens dann nicht mehr, als die Vokalisten an der Reihe sind: Schillers „Ode an die Freude“ wird ohne Gespür für Sprachmelodie und sinnhafte Akzentuierung heruntergesungen. Lautstärke und Pathos treten in den Vordergrund. Den jungen Mitwirkenden, die über 90 Minuten hinweg deutlich mehr Verantwortung tragen als im Normalfall ein einzelnes Ensemblemitglied, möchte man dies nicht wirklich anlasten, wohl aber den erfahrenen Dozenten Ervis Gega und Alexander Hülshoff sowie dem für die Einstudierung der Singstimmen zuständigen Desar Sulejmani.

Über die Qualität des Arrangements zu urteilen, fällt schwer. Vom Klavier geht jedenfalls auch da eine gewisse Härte aus, wo es den Orchesterklang anreichern sollte. Nicht von ungefähr sah vor über 100 Jahren Arnold Schönbergs „Verein für musikalische Privataufführungen“ für derartige Bearbeitungen ein zusätzliches Harmonium als Bindemittel vor. Einen ähnlichen Eindruck fehlender Klangverschmelzung hat man wenig später beim Rheingau-Musik-Festival: Da führen in Kloster Eberbach unter Leitung des britischen Dirigenten Joolz Gale „Freigeist Chor und Ensemble“ Ronald Kornfeils Arrangement von Gustav Mahlers 3. Sinfonie auf. Die Gruppierung bezeichnet sich im Programmheft selbst als „mutiges Kollektiv von Überschall-Solisten aus deutschen Sinfonieorchestern“. Tatsächlich nötigen Mut und sichtliche Begeisterung für das Projekt dem Hörer Respekt und Sympathie ab. Diese Qualitäten führen aber nicht wirklich durch den enormen Spannungsbogen der langen „Ersten Abtheilung“; die tapferen Solisten wirken nicht wie souveräne Überwinder der Schallmauer, sondern eher wie angestrengte Kletterer in dünner Hochgebirgsluft. Klanglicher geschlossener, sicherer und ansprechender gerät die in fünf Einzelsätze gegliederte „Zweite Abtheilung“. Aber auch hier stellt sich die Frage nach den Proportionen und nach dem Sinn: Die Mezzosopranistin Dame Sarah Connolly singt das Altsolo mit vorbildlicher Deutlichkeit und Prosodie und passt ihr Stimmvolumen der Größe der Basilika an. Ähnlich agiert der durch die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben verstärkte Chor. Dagegen wirkt der kammermusikalische Orchesterpart zu dünn. Und was bleibt von Mahlers Idee, in einer Sinfonie „mit allen Mitteln der vorhandenen Technik eine Welt auf(zu) bauen,“ wenn man die wählbaren Klangkombinationen derart einschränkt?

Den umgekehrten Weg – Entfaltung statt Reduzierung – geht der Arrangeur Andreas N. Tarkmann in seiner Bearbeitung von Johann Sebastian Bachs „Goldberg-Variationen“, die der Geiger Niklas Liepe mit dem Stuttgarter Kammerorchester zur Aufführung bringt. Tarkmann wählt aus den 30 Variationen die Hälfte, und seine Bearbeitung für Streichorchester mit Cembalo folgt den Kombinationsmöglichkeiten des barocken Concerto Grosso: Mal steht im Zusammenspiel mit dem Tutti die konzertierende Violine im Vordergrund, mal das erweiterte Concertino mit zwei Violinen und Bratsche, mal eine Kombination innerhalb dieses Trios; dabei bildet das Streicherpizzicato immer wieder auch eine klangliche Brücke zum als Generalbass agierenden Tasteninstrument. Das wirkt einfallsreich und stilgerecht, und man möchte nicht ausschließen, dass Bach dies ähnlich gemacht hätte. Indem sie den starren Cembaloklang in den ausdrucksvolleren Streicherklang übersetzt, macht die Bearbeitung die melodische Linien und damit auch die musikalischen Strukturen deutlicher – auch dies im Sinne Bachs, der ein großer Anhänger des kantablen Spiels auf Tasteninstrumenten war. Bachs Original, das bestimmt war als Einschlafhilfe für Hermann Carl Graf von Keyserlingk, versteckt seine kompositorische Raffinesse hinter den beschränkten Klangmöglichkeiten des Tasteninstruments; hier wird es zur Kammermusik für Kenner und Liebhaber.

Aufgelockert wird die Variationenfolge durch musikalische Miniaturen von Komponisten der Gegenwart, die auf die eine oder andere Weise auf die Vorlage Bezug nehmen und sich mit ihr zu einem Gesamtprogramm unter dem Titel „Goldberg Reflections“ runden, das Liepe und das Stuttgarter Kammerorchester auch auf CD aufgenommen haben. Die Neukompositionen tragen zum Teil hintersinnige Titel: Andreas N. Tarkmann hat „Bachs letzten Sommer“ komponiert, Stephan Koncz ein Stück „GoldBergHain“ und Konstantia Gourzi zwei „Lullabys“. Wolf Kerschek legte eine „Goldberg Reflections Aria“ vor und Rolf Rudin einen „Dialog mit Bach“. Hier findet man ganz unterschiedliche Spieltechniken des 20. und 21. Jahrhunderts – wozu auch der Wechsel vom Cembalo ans moderne Klavier gehört – und ganz unterschiedliche Zugänge, vielleicht auch Abwege zu und von Bach. Aber es ist nicht nur die originelle Zusammenstellung, die Lust auf ein Wiederhören macht. Es ist auch der Ort: Das Laien-Dormitorium mit begrenzter Hörerzahl bietet eine intime Atmosphäre der Konzentration. Und es ist die Musizierhaltung: Niklas Liepe und seine Mitstreiter haben offensichtlich und hörbar Vergnügen am gemeinsamen Konzertieren, aber sie vergessen darüber nicht, dass sie vor einem und für ein Publikum spielen.

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