Gegenwart ist immer Plural und Monokausalitäten gibt es nicht. Jeden Tag auf’s Neue aufzustehen und sich zu sagen: Ja, ich decke den Widerspruch auf, ja, ich stelle mich der Vielfalt der Eindrücke und Interpretationsmöglichkeiten, stelle auch die Bedingungen meines Erkenntnisinteresses in Frage, fange wieder bei Null an, nämlich möglichst vorurteilsfrei und blicke am Abend auf mein Häuflein Ungewissheit, ist, allzu menschlich betrachtet, ein hartes Brot, weit weg von jeder Wards-Zufrieden-Gemütlichkeit. Genau zu jenem aber, zu diesem harten Brot, muss zeitgenössische Kunst gehen, will sie nicht als belanglos summende Eintagsfliege von einem auch nicht belangt werden wollenden Publikum die Klatsche bekommen. Beifall von der falschen Seite hieß das einmal zu Adorno-Seligs Zeiten.
Geklatscht wurde indes viel und heftig bei der numehr 60. Jahrestagung des Darmstädter Instituts für Neue Musik und Musikerziehung am verlängerten Wochenende nach Ostern. „Orientierungen“ im „Pluralismus der Gegenwartsmusik“, so das Tagungsthema, anzubieten, tut tatsächlich Not.
Die zahlreichen anwesenden Künstler und Komponisten selbst braucht das eigentlich weniger zu interessieren. Was aber tiefschürfende reflektierende Komponisten wie Hans Zender, Klaus Stephen Mahnkopf oder auch Markus Hechtle aus ihrer Perspektive des Schaffenden an den knapp vier Tagen anboten, waren auch den anwesenden Tagungsteilnehmern – „Tendenz steigend“ – zumindest Anhaltspunkte im Wortsinn.
Nämlich aus dem pädagogischen Tagesgeschäft kurzzeitig auszusteigen und die hochkarätigen Anregungen aus berufenen Mündern konstruktiv auf sich wirken zu lassen: ganz gemäß Satzung des Instituts für Neue Musik und Musikerziehung. Der Vorstand des Instituts um Helmut Bieler-Wendt und Jörn-Peter Hiekel leistet eine hochseriöse und inhaltlich wirklich auf der Höhe der Zeit angesiedelte Arbeit – sehr guter Eindruck.
Aufgegangen ist vor allem das Konzept einerseits eines Brückenschlags zwischen Avantgardeprofis und interessierten Laien und Kindern, andererseits der wechselseitige Blick aus der improvisierten auf die komponierte zeigenössische Musik, von der abendländischen auf die morgenländische und umgekehrt und vor allem das straffe Verzurren des Tagungsprogramms zu einem inhaltlich eben nicht beliebigen, mitunter auch verlegenen Reigen fröhlich unvorbereiteter Referenten und Komponisten. Gerade hier, in den ästhetischen Diskussionen und im Auffächern des Tagungsthemas in seine unterschiedlichen pädagogischen Segmente zwi- schen Laienmusik und kompositionsgeschichtlich relevanter zeitgenössischer Musik hatte die Tagung eine ihrer Stärken.
Eruptiv, vollgriffig
Die Konzerte etwa für chinesische und westliche Instrumente, für mikrointervallisch agierendes Streichquartett oder für – natürlich auch – zwei Klaviere brachte gewissermaßen die Thor-Heyerdahl’sche-Beweisführung auf den Plan, dass einer These auch Taten folgen sollten.
So waren gerade die zwei neben-, nicht gegenüber gestellten Klaviere (Oliver Kern, Daniel Seel) jenes papierne Schiffchen, mit dem sich abenteuerlich und dennoch sicher, über das Meer der Gegenwartsmusik navigieren ließ. Markus Hechtles zuerst vollgriffig eruptive „Musik für zwei Klaviere“ erinnerte im weiteren Verlauf tatsächlich an Debussys „La mer“ – aus Abneigung gegen die Besetzung entstanden, wie es der Komponist erläutert. In Neuer Musik ist diese Haltung fast schon die halbe Miete, bekanntlich wollte Morton Feldman nie eine Oper komponieren und Beckett mochte die Gattung ebenfalls nicht. Ja, ja: Der gute alte Anti-Reflex brachte jetzt auch bei Hechtle eine formal zwingende und klanglich sehr fesselnde, dabei klangtechnisch sehr austarierte und durchgehörte Musik in Umlauf, deren warme Strömung unser kleines Boot Orientierung zu neuen Ufern führte, wo vielleicht noch matriarchalisch organisierte Stämme die Felder bestellen und jeder genug zu essen hat. Das ist viel. Hechtle komponiert gerade für das „Ensemble Modern“.
Schimmernde Leuchtfeuer
Auch der Dozentenkomponist Georg Friedrich Haas, zur Zeit aufgrund seiner mikrotonal-virtuosen Grenzgänge in fast jeder Gattung ganz zu Recht sehr hoch im Kurs und gefeiert, bot mit seinem fragilen zweiten Streichquartett wahrlich ein prismatisch schimmerndes Leuchtfeuer auf dem Weg zum Kap der Guten Hoffnung Gegenwartsmusik – mit ernorm weiten, leisen, leicht rotierenden, von unmerklichen Übergängen bestimmten Spannungsbögen bravourös vom Helios SreichQuartett (sic!) anmutig und grazil dargeboten. Auch in der Programmdramaturgie von Volker Staub, der sehr erfolgreich die Kinderuni während der Tagung leitete, gebührt dem Darmstädter Lob. Das größte Lob gebührte indes dem Komponisten Johannes Fritsch, über sehr lange Jahre der Kopf der Tagung, anlässlich seines 65. Geburtstages. Sein uraufgeführtes Streichtrio bestach durch klangliche Klarheit und mobileartige Bewegungsmuster. Seine zarte Musik war der Wind, mit dem wir das Land der Väter nach erfolgreicher Expedition wieder sicher erreichten und unsere Frauen und Kinder in die Arme schlossen. Uns war der Zwieback nicht ausgegangen. Das ist heute auch Neue Musik.