Berlins Mitte des 20. Jahrhundert erbautes Opernhaus mausert sich unter seinem Intendanten Dietmar Schwarz zu einem Tempel zeitgenössischen Musiktheaters. In Tagesabstand folgte der Deutschen Erstaufführung der gemeinsam mit Covent Garden produzierten Oper von Georg Friedrich Haas in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin die Uraufführung von „Chemo Brother“.
Größer könnte die Bandbreite wohl kaum ausfallen als zwischen dem eigenwillig innovativen Musiktheater „Morgen und Abend“ und dem auf „alle ab 14 Jahren“ zielenden Cross-Over des sich an klassischer Moderne orientierenden von Eleftherios Veniadis und der jazzigen Elektronik von Arne Nitzsche.
Zusammen mit der freien Berliner Theatergruppe glanz&krawall und mit finanzieller Unterstützung der Stiftung Deutsche Klassenlotterie Berlin und dem Projektfonds Kulturelle Bildung des Fachbereichs Kultur des Bezirksamts Charlottenburg-Wilmersdorf für die Aufführungen und ein theaterpädagogisches Begleitprojekt, hat die Deutsche Oper Berlin dieses Musiktheater produziert.
Nachdem im November 2014 in der Tischlerei bereits ein „Try out“ zu sehen war, donnert nun die Handlung eines jungen Paares vor seinem ersten Geschlechtsverkehr mit dem Glanz von Glimmerstaub und Krawall von Schlagzeug und Keyboard auf das Opernpublikum ein. Dazwischen aber, als müsste sie Inventionen für ein Konzertexamen üben, mischen sich die am (teilweise präparierten) Flügel gespielten Klavierläufe der Pianistin Bagin Jung in einem der klassischen Moderne nachempfundenen Stil des 1977 geborenen griechischen Komponisten.
Das Publikum sitzt in der Mitte des quer bespielten Raumes. Von vier Aluminiumtoren zunächst verschlossen sind die Spielorte Garage und Krankenhaus. (Für die Ausstattung zeichnen Günter Hans Wolf Lemke und Michael Glowski und Kim Scharnitzky verantwortlich.) In den Ecken dieses Containers sind divergierend die Bereiche Klassik und Rock, Konzertflügel und Schlagwerk angesiedelt, darüber eine weitere Spielebene und in der Mitte das Keyboard, welches Nitzsche, mit Gliedmaßen von Kinderpuppen behangen, ab Publikumseinlass im leicht eingenebelten Raum dröhnen lässt. Dann aber mischen sich über einem Orgelton zusehens auch die musikalischen Ebenen, während der Reflex eines in der Hand gehaltenen Metallprismas wie ein Suchscheinwerfer über Zuschauer und Akteure wandert.
Die junge Regisseurin Marielle Sterra bebildert die Abfolge mit einem Motorrad des Mädchens als Dauerreparaturfall und dem Aufblasen kreis- und bananenförmiger Liebesliege-Objekte durch den jungen Luca effektvoll.
Nach der deutschen Erstaufführung von Haas’ Musiktheater geht es auch an diesem Abend um Leben und Tod. Der titelgebende Bruder der Handlung von Mehdi Moradpour hatte ein Beinahe-Verhältnis mit der jungen Frida, die nun in dessen jüngeren Bruder Luca verliebt ist. In Monologen, Fantasien und gemeinsamen Dialogen bereiten sich die Beiden auf ihre erste Vereinigung vor. Aber als Frida endlich mit ihrem zusammengeflickten Motorrad vor Lucas Haustür angekommen ist, empfängt dieser gerade den Anruf seiner Mutter, dass bei seinem Bruder Jannek ein Tumor am Hals diagnostiziert wurde und er ins Krankenhaus kommen solle. Jugendliche in einer Videoprojektion erteilen ihm divergierende Auskünfte, wie er sich nun verhalten solle. Der Titel „Chemo Brother“ könnte sich im zweiten Akt der Handlung einlösen, doch nach 60 Minuten ist das musiktheatrale Novum bereits am Ende.
Die szenische Umsetzung dieser Handlung mischt Schnipsel von Schauspiel und Musiktheater zu einer bunten Collage. Insbesondere die Sopranistin Angela Braun fasziniert mit chromatisch sirenenhaftem Gang und Vokalglissandi, neben Popsänger-Qualitäten, jugendlich-draufgängerischer Spilastik und flapsig vorgetragenen Monologen. Im Gedächtnis bleibt ihre geile Schilderung der Aktionen eines Vampirfischmännchens mit seinen drei Penissen. Dass sie – mit ganz anderer Körperhaltung und Stimmgebung – obendrein noch die Mutter des Jungen verkörpert, prädestiniert Angela Braun für ein breites Rollenspektrum. Zwischen Fistel- und Bassregion bewegen sich die gesanglichen Diagnosen von Enrico Wenzel als Arzt. Der junge Schauspieler Kay Liemann verkörpert rappend und tanzend den jungen Luca in seinem pubertären und familiär zugespitzten Zwiespalt.
Die von den Veranstaltern als „Soundtrack der Jugend und der Liebe“ angekündigte Uraufführung erntete dankbaren Applaus des Premierenpublikums.
- Weitere Aufführungen: 2., 3. Mai 2016.