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Spiel mit mir, tanz mit mir: Szene aus „Loops and Lines“. Foto: Charlotte Oswald
Spiel mit mir, tanz mit mir: Szene aus „Loops and Lines“. Foto: Charlotte Oswald
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Das Ensemble Modern kann auch tanzen

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Stephan Thoss’ Tanzprojekt „Loops and Lines“ am Staatstheater Wiesbaden
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Immer noch gibt es den einzelnen Zuschauer, der, noch bevor auch nur der erste Schritt eines Ballettabends getan ist, ein lautes „Buh!“ vom Rang des großen Hauses herunterbrüllt. Das war auch jetzt wieder so, als „Loops and Lines“, Stephan Thoss’ vorletzte Arbeit für das Staatstheater Wiesbaden, Premiere hatte. Alle anderen haben in den sechs Jahren, in denen Stephan Thoss als Ballettdirektor und Chefchoreograf neue Standards am Staatstheater Wiesbaden gesetzt hat, doch zu schätzen begonnen, was der eigenwillige, 1965 geborene Leipziger mit seinem hochdynamischen Ensemble dort erarbeitet hat. Vielleicht auch, weil internationale Gastspiele, zwei „Faust“-Nominierungen und ein „Faust“ für seine „Giselle M.“ kurz nach seinem Beginn in Wiesbaden dem ein oder anderen schon angedeutet haben mögen, gar so schlecht könne nicht sein, was andernorts gemocht wird. Thoss, der zu Beginn bis zu persönlichen Beleidigungen und „Shitstorms“ der Fans seines Vorgängers Ben van Cauwenbergh viel durchzustehen hatte, arbeitete beharrlich an seiner Idee eines zeitgenössischen Tanzes, der im deutschen Ausdruckstanz wurzelt.

Als Schülererbe Rudolf von Labans (1879 bis 1958), ausgebildet an der Palucca-Schule in Dresden und vor allem geprägt von seinem Lehrer Patricio Bunster einem Schüler des Laban-Mitarbeiters Kurt Jooss, hat Thoss nun,  mit der Hilfe des TANZFONDS ERBE der Bundeskulturstiftung und des Kulturfonds Frankfurt RheinMain einmal zeigen können, worin sein Tanz wurzelt: Fast schon zum Abschied wurde „Loops and Lines“ uraufgeführt. Denn Thoss muss mit dem Intendantenwechsel von Manfred Beilharz zu Uwe Eric Laufenberg seine Arbeit in Wiesbaden mit dieser Saison beenden. Dem Vernehmen nach wird er zunächst als freischaffender Choreograf arbeiten, sein Manager Johannes Grube bleibt in Wiesbaden, als Geschäftsführer des neu zu gründenden Hessischen Staatsballetts Wiesbaden-Darmstadt. Die beiden benachbarten Staatstheater legen ihre Compagnien zusammen, mit einigen Tänzerstellen weniger soll dem Willen der Intendanten zufolge künftig alles geboten werden: Von großen Stücken renommierter Gastchoreografen bis zu kleinen Performances, von Neoklassik bis Workshop.

Was eine kontinuierliche Ensemblearbeit zu leisten vermag, zeigte Thoss nun mit dem Laban-Tanzprojekt „Loops and Lines“. Warum bewegen wir uns? Wie tun wir das? Wohin geht Bewegung? Aus welchen Motivationen nährt sie sich? Thoss’ überaus energetischer, raumgreifender Tanzstil, der psychologische Motivationen ebenso umsetzt wie Impulse aus Musik, Text und Raum, legt in diesem Abend  gewissermaßen sein Handwerkszeug offen, geht seinen eigenen Beweggründen auf die Spur. Selten wohl ist ein Programmheft so ausführlich ausgefallen wie das zu „Loops and Lines“. Es erläutert Grundprinzipien von Labans Bewegungsforschung und bildet sie mit Skizzen und Dokumenten ab. „Gates“, „Loops“, „Bridges“ und „Lines“ nennt Thoss die vier kurzen verknüpften Arbeiten, die vier Prinzipien aus Labans Theorie entsprechen sollen: Bewegungsqualität, Bewegungsfluss, Raum und Energie. Der Titel „Loops and Lines“ nimmt dabei nicht nur Labans Definition von Kreis und Linie auf, sondern auch die Titel zweier Kompositionen: die „Shaker Loops“ von John Adams, beinahe am Anfang des nur anderthalbstündigen Abends, und die „Eight Lines“ von Steve Reich am Schluss.

Thoss hätte keine besseren Musiker für dieses Projekt finden können als das Ensemble Modern, das schon oft, unter anderem beim Festival „Frankfurter Positionen“, seine Offenheit für den Tanz demonstriert hat, etwa im Zusammenspiel mit Sasha Waltz für Wolfgang Rihms „Jagden und Formen“ (2008). Insofern mag Rudolf von Labans berühmter Satz  „Jeder Mensch ist ein Tänzer“ zwar auf Skepsis stoßen – die Musiker des Ensemble Modern jedenfalls hat Thoss zum Tanzen gebracht. Nur mit einer Finanzierungshilfe konnte das Projekt gestemmt werden, die Proben und Aufführungstermine mussten in die vollgepackten Kalender  beider Ensembles passen – noch allerdings sind ein paar Vorstellungen zu sehen.

Choreografierte Musik ist das Kabinettstückchen „Bridges“ nach der Pause: Die sechs Bläser des Ensembles improvisieren heiter und schlau, Thoss, der wie stets Bühne, Kostüme und Videoeinspielungen selbst entworfen hat, lässt sie in Silbergrau gewandet über die Bühne wandeln und durch einen Zuschauereingang verschwinden – so einfach kann man auch einmal zeigen, was der Raum mit der Bewegung macht. Thoss lässt das Soloklavier für „China Gates“ von John Adams gemeinsam mit den Tänzern hinter einem Gaze-Vorhang auftreten und Ezra Houben mit dem tieftönigen Kontraforte das mikrofonverstärkte Kostümrascheln einer Solistin mit winzigen Schritten begleiten.

Die Aufgabe dieses ersten Teils namens „Gates“, der Qualität von Bewegung akribisch nachzuspüren, ist dabei ebenso gelungen wie der Versuch, zu Adams’ „Shaker Loops“ große Bewegungsbögen zu zeigen. Dort bilden die sieben Streicher am Ende selbst einen Bogen, während die wunderbar frisch agierenden Tänzer sie umkreisen.

„Energie“, so das letzte der vier Elemente des Abends, fehlt Thoss in seinem Tanz grundsätzlich nie. Zu Reichs „Lines“ wirbeln am Ende dabei zwei gelb und blau gewandete Grüppchen und ein schwarzes Paar durch ein subtil ausgeleuchtetes Feld von zerknülltem Papier.

Thoss’ „Loops and Lines“ ist nicht nur eine überaus unterhaltsame Einführung in Tanztheorie, es ist ein musikalisch erfrischender Tanzabend, der zur Auseinandersetzung anregt. Weitere Vorstellungen  gibt es noch am 6. März und am 30. April.

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