In den letzten Tagen der Salzburger Festspiele 2013 erschien in der lokalen Tageszeitung, den renommierten Salzburger Nachrichten, ein Leserbrief. In diesem kritisierte ein Leser die eingerissene Praxis, wie bei den Festspielen jeweils Intendanten gesucht würden. Das für die Intendantenwahl zuständige Gremium, das sogenannte Kuratorium, habe, so der Leser, in den letzten Jahren mit seinen Entscheidungen bewirkt, dass in immer kürzeren zeitlichen Abständen die gekürten Intendanten ihre Salzburger Position quittierten und anderen Verlockungen folgten.
Der Leser nannte auch den Hauptverantwortlichen für die unerfreuliche Entwicklung: den Salzburger Bürgermeister – Name uninteressant. Dieser sitzt mit vier anderen Mitgliedern im Kuratorium der Festspiele und kontrolliert den Intendanten. Der Name des Lesers allerdings ist nicht uninteressant: Es ist der Dirigent Nikolaus Harnoncourt, den die ständigen Reibereien zwischen den jeweiligen Intendanten und dem Kuratorium dazu bewegten, seiner Sorge um die Festspiele Ausdruck zu verleihen. Ob Harnoncourts Kritik zutreffend ist oder nicht – das soll hier nicht weiter diskutiert werden. Dringender ist die Frage, ob die Salzburger Festspiele nicht eine Aufgabe haben, die über kleinliche Machtspiele und den hier unvermeidlichen Gelderwerb hinausgehen.
Gerade in diesem Augenblick, in dem überall in unseren Kulturwelten der öffentlich-rechtliche Rotstift die tradierten Kulturwerte zu bedrohen scheint, ist ein Festspiel wie das in Salzburg besonders gefordert: Es kann einem aufgeschlossenen, oft einflussreichen Publikum zeigen, dass in unserem von Gewinnstreben und oberflächlichen Entertainment beherrschten Leben vielleicht auch noch andere Dinge einen Wert besitzen, die dem Leben einen höheren Sinn verleihen könnten. Wenn auch nur jeder Zehnte seine Salzburger Erlebnisse in seinen Heimatort transferiert, sich dafür engagiert, das heimische Kulturleben zu beleben, dann haben Festspiele wie Salzburg einen wunderbaren Nebenerfolg, der auch einen höheren Sinn ergibt. Darüber wird in der „neuen musikzeitung“ in der nächsten Ausgabe noch zu berichten sein.
Ein Ereignis soll an dieser Stelle aber jetzt schon erwähnt werden. Die „neue musikzeitung“ hat sich in den letzten zwei Jahren immer wieder mit der zukünftigen Situation der beiden Rundfunksinfonieorchester in Baden-Württemberg beschäftigt. Der Südwestdeutsche Rundfunk (SWR) beabsichtigt, die beiden Orchester in Stuttgart sowie in Baden-Baden/Freiburg zu fusionieren. Dagegen hat sich besonders im Badischen andauernder Protest erhoben, der bis heute nicht abgeflacht ist. Das Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg besitzt seit sechzig Jahren eine überragende Aufgabe: Es ist das Kernensemble der ruhmreichen Donaueschinger Musiktage, dem wichtigsten Zentrum für Neue Musik. Das Orchester ist unverzichtbar für diese Aufgabe, es hat darüber hinaus aber auch eine zentrale Bedeutung für das Musikleben in dem Landstrich zwischen Mannheim und Basel, wo es das einzige Orchester in der A-Oberklasse darstellt. Dass die Auflösung dieses Orchesters und die Überführung in eine eher diffuse Zukunft in einem „Großorchester“ in Stuttgart von fast allen kompetenten Fachleuten kritisch gesehen wird, scheint die Intendanz des Senders nicht weiter zu beeindrucken. Man kann schon nachdenklich werden darüber, was für Leute heute in den oberen Funketagen das Sagen haben.
Ob für das Baden-Baden/Freiburg-Orchester die von engagierten Musikfreunden avisierte Stiftungsgründung realisierbar ist, wird man abwarten müssen. Die SWR-Intendanz hat einen Beitritt des Senders zu einer solchen öffentlich-rechtlichen Stiftung angeblich abgelehnt, würde aber einen größeren finanziellen Beitrag beisteuern: Das Wort in des Musikfreunds Ohr.
Umso wichtiger war daher der Auftritt des Baden-Baden/Freiburg-Orchesters bei den diesjährigen Salzburger Festspielen. Was das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg an diesem Abend im Großen Festspielhaus bot, war schlechthin überwältigend. Den Auftritt des Orchesters bei den Festspielen, eingeleitet mit einer Demonstration vor dem Festspielhaus, umgab eine besondere Aura. Das Menetekel der baldigen Auflösung stand über allem. Und Salzburgs Festspielintendant Alexander Pereira trat vor Beginn des Konzertes vor das Orchester und das Publikum, erinnerte an die große Bedeutung, die dieses Ensemble seit mehr als sechs Jahrzehnten für die Fortführung unserer Musikgeschichte bis in die unmittelbare Gegenwart besitzt, drückte seine Bewunderung für den Dirigenten Michael Gielen, den bedeutenden Mahler-Interpreten, mit bewegenden Worten aus und sagte, dass er Orchester und Dirigent mit Freude für einen Mahler-Zyklus nach Salzburg verpflichtet habe. Darüber hinaus aber sei diese Verpflichtung zugleich ein Protest der Salzburger Festspiele gegen das, was beim Sender des Orchesters geplant sei. Pereira ließ es an Deutlichkeit, was er darüber denkt, nicht fehlen. Die Bekundung des Salzburger Festspielintendanten verdient alle Hochachtung. Vielleicht evoziert sie im heimatlichen „Ländle“ wenigstens ein wenig Nachdenken darüber, wie die unheilvolle Entscheidung über das SWR Sinfonieorchester Baden-Baden und Freiburg im Ausland wahrgenommen wird.
Danach argumentierte nur noch die Musik. Auf dem Programm stand Gustav Mahlers Symphonie Nr. 6 in a-Moll. Gielens Mahler-Kompetenz steht außerhalb jeder Diskussion. Die komplette CD-Einspielung mit dem SWR Orchester Baden-Baden/Freiburg gehört zum Wichtigsten, was an Mahler-Dokumentationen erschienen ist. Sogar ein eher konservativer österreichischer Musikkritiker fand nur noch Worte des Rühmens für die Kassette.
Danach der Live-Auftritt. Gielen, inzwischen fünfundachtzig Jahre alt, an einen hohen Stuhl lehnend, ließ keinen Zweifel aufkommen, dass er entschlossen war, die Aufführung zu einem großen Plädoyer zu erheben: für „sein“ Orchester, das er zehn Jahre als Chefdirigent geleitet hat, und für Gustav Mahler. Allegro energico – Heftig, aber markig: Der unheimliche Marschrhythmus des Kopfsatzes, der auch später immer wieder die folgenden Sätze durchzieht, gewann eine bedrängende Gewalt. Im Hören entstanden düstere Bilder: marschierende Kolonnen, die in ein intuitiv erfasstes Unheil stürzen. Mahler schrieb die Sinfonie in den Jahren 1903 bis 1906. Sensible Künstler, so sagt man immer wieder, haben oft seismographisch kommende Katastrophen vorausgeahnt. Und Gielens energischer, fester, ja harter Zugriff auf diese Musik ließ keinen Zweifel daran, dass er dieser Vorausahnung glaubt. Gielen will keinen „schönen“ Mahler, keinen Wohlklanggerundeten, sondern den „Wahren“, den man in jeder Aufführung wieder aufspüren muss, damit er in seiner Bedeutung für die Musik insgesamt erfahrbar wird. Irgendwie kam einem beim Hören dieser Aufführung der Gedanke, das Werk sei für die nächsten Donaueschinger Musiktage komponiert. Bei kaum einem anderen Dirigenten wird die Bedeutung Mahlers für die neue Musik so schlagend erkennbar, wie bei Gielen. Dass er und das Orchester aber auch wunderbar berührend, zärtlich, klangpoetisch Mahler spielen können, bewiesen sie im Andante moderato. Sensibler, fein ausgehörter geht es kaum.
Das Publikum im Großen Festspielhaus schien die doppelte Bedeutung dieses Konzerts intensiv zu spüren. Starker, bewegter Beifall. Die Musikerinnen und Musiker des SWR Sinfonieorchesters Baden-Baden/Freiburg können stolz auf ihr Konzert sein: Es gehört zu den Höhepunkten der diesjährigen Festspiele, vielleicht war es sogar der Höhepunkt. Für die weiteren Verhandlungen des Orchesters über die Gründung einer „rettenden“ Stiftung war der Salzburger Auftritt sicher ein wichtiger Schritt in die Zukunft.