Roland Kluttig dirigiert, Kirill Serebrennikov inszeniert „Salome“ an der Staatsoper Stuttgart – und Frieder Reininghaus berichtet.
Als „Salome“ 1905 auf den Spielplan trat, war sie die denkbar radikalste Lösung moderner Musiktheaterdramaturgie und Intonation: Fernab von kirchlichen Lehrmeinungen bezüglich des vom Neuen Testament initiierten anzüglichen Stoffs und in den Nasen des Establishments anrüchig.
Wenig schmeichelhaft erschien die Darstellung der Royals, gar zu sehr erotisch-sexuell aufgeladen das Herauskitzeln des weiblichen Instinkts der Prinzessin und der um sie herum sich gruppierenden männlichen Begehrlichkeiten. All das gelangte kompakt, dampfend und lockend mit reizdissonantischer Musik zum Einsatz. Die „Salome“ von Oscar Wilde und Richard Strauss büßt, wenn sie richtig aktiviert wird, auch 110 Jahre nach der Uraufführung wenig von den Schärfen ein. Es ist ein schreckliches Stück – geblieben.
Kirill Serebrennikov hat dies durch einen Balanceakt zwischen Verweigerung von historisierender Bebilderung und Erfüllung des Wildeschen Wortsinns demonstriert. Mit dem Film-, Schauspiel und Opernregisseur, der das Moskauer Gogol-Center leitet (ein spartenübergreifendes Theaterlabor), ist Intendant Jossi Wieler ein Coup de théâtre gelungen. Serebrennikov hat bislang in Deutschland nur an der Komischen Oper Berlin Olga Neuwirths „American Lulu“ inszeniert. Er war uns ist also im übrigen Operndeutschland noch zu entdecken. Dank seiner Leistung verfügt das Staatstheater Stuttgart nun wieder über eine Produktion, die an ihren preisgekrönten Zeiten anknüpft.
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Wie inzwischen meist im Musiktheater, das auf Gegenwart zielt: Kein Vorhang. Die Handlung hat bereits begonnen, wenn man sich auf seinen Platz zuarbeitet. In einem hochmodern ausgerüsteten Mehrzweckgebäude flimmern Bilder der Schreckensszenarien des Jahres 2015 über die Flachbildschirme: Ost-Ukraine, Syrien, südosteuropäische Grenzzäune, Treffer und Razzien in Paris, arabische Schriftzeichen. Überall gut geschultes und indolent in die Runde schauendes Sicherheitspersonal, wie es heute unter den zivilen Beamten auf dem Perron der Gare de L’Est anzutreffen ist. Die Männer auf der Stuttgarter Bühne haben die Monitore im Blick, die Einblick in sämtliche Gänge, Treppen und Winkel eines Gebäudekomplexes gewähren. Auch stimmlich ist das Team um Hauptmann Narraboth bestens präsent und gut aufeinander eingespielt. Was ein Glück für ein Haus, das über ein Sextett solcher sauber, wohldosiert und textverständlich singenden Ordnungskräfte verfügt!
Iain Paterson verkörpert die Stimme des Jochanaan, der nach dem Willen von Libretto und Partitur ein „junger Mann“ sein soll (hinsichtlich dieser Partie funktioniert „Werktreue“ ohnedies in aller Regel nicht). Paterson gebietet über die devot-strengen und hybrid-verheißungsvollen Botschaften mit souverän-ruhiger Stimmführung. Sein Bass sticht markant, aber nicht impertinent aus dem Tongewebe und -gewoge hervor, das Roland Kluttig in idealer Weise ausbalanciert. Die für die Hofgesellschaft des Herodes ungemütlichen, verstörenden, bis aufs Blut provozierenden Mahnungen, Enthüllungen und Forderungen tönen zunächst aus einem durch sichere Glastüren hinten links abgetrennten Separee, später auch von vorn an der Rampe.
Der christlich reklamierte Täufer-Prophet erhält per Video, dann auch leibhaftig sichtbar mit Yasin El Harrouk ein alter ego. Das Outfit des gutgebauten jungen Manns, der an der (dem Staatstheater benachbarten) Hochschule für Musik und Darstellende Kunst studierte, ist ebenso wie die Behandlung durch die Sicherheitsexperten nach Fernsehbildern durchgestylt – Material steht dieser Tage hinreichend zu Verfügung durch die Aufzeichnung von Tatverdächtigen in Paris oder Bruxelles: smart, schön, stolz, fanatisch. Ein „weißer Leib“, saubere weiche Haut und knallharte Gesinnung. Kein Gramm Fett zu viel. Das am Ende in einem Akt von Staatsterrorismus abgetrennte Haupt von einem Bekenntniskäppi gekrönt. Sallallahu alaihi wa sallam! Die Spaltung der Persönlichkeit des Johannes in einen Täufer und einen höllischen Himmelfahrtskommandeur wirkt nur einen kurzen Moment befremdlich. Ebenso die Übertragung des religiösen Rigorismus aus dem jüdisch-christlichen in den muslimischen Kontext (mit pietätgegründeter Glaubensstrenge sind so manche im Stuttgarter Publikum ja noch vertraut). Verbunden sind Jochanaan I und II durch ihre phobischen Bekundungen gegen weibliche Reize und Nähe.
Serebrennikovs Lesart und Darstellungsform der Geschichte der libertinär freizügigen Herodias, ihres Zweitmanns und der nach landläufiger Meinung nicht gut geratenen Tochter erwirbt sich rasch weitere Plausibilität, indem mit Matthias Klink kein wohlbeleibter jovialer alter König in den Beziehungs-Clinch geschickt wird, sondern ein drahtig-viriler Mann, der aber offensichtlich nicht nur eine Ehe-, sondern auch eine gesundheitliche Krise durchzustehen hat. Der Tenor befindet sich in den besten Jahren und in bester Form. Er verfügt auch über eine angenehme baritonale Färbung und spricht pointiert. Claudia Mahnke an seiner Seite hat’s besonders gut. In ihrem Grand Lit (oben links) verwöhnen sie, nur unterbrochen von Auftritten am königlichen Ess- und Trinktisch, ziemlich Nonstop zwei durchtrainierte dunkelhäutige Sex-Sklaven. Die eskalierenden Wiederholungen von Sentenzen und Gesten bilden besondere dramatische Momente der „Salome“. Die beiden Bodybuilder gehören auf sympathische Weise irgendwie zur königlichen Familie. Ein heiter-tragisches Comic-Video vom Kürbis, der seiner Schlachtung nicht entgeht, liefert einen feinsinnigen Kontext.
Simone Schneider, sonst gerne auch als Prinzessin Gutrune vom dahindämmernden Burgundenhof, als Königin der Nacht oder Kaiserin ohne Schatten unterwegs, wurde von Serebrennikov als trampelige Göre zugerichtet. Sie setzt einen deftigen Kontrapunkt zu den Salome-Darstellerinnen, die sich wie Table-Dancerinnen gerieren (müssen). Zum Schleiertanz stellt sie sich als Leihgabe Hollywoods einfach hin: als Inkarnation der „freien Welt“ im bonbonfarbenen Kostüm mit Tütü und Schmetterlingsflügeln sowie einer extragroßen Minni Mouse auf der Brust. Sie denkt nicht daran, zu tanzen (das tun dann andere). Sie liest, bis die sexuelle Wallung des Tetrarchen abgeebbt ist, in den auf dem Couchtisch ausliegenden Modezeitschriften. Diese Salome ist eine vorsätzlich schräg herbeigeführte Figur, die die Ungeheuerlichkeit des von Verwöhnung bestimmten Verlangens ins Groteske steigert. Von Schneiders Stimme geht Herausforderung und zugleich ein sättigender Glanz aus: diese Sopranistin krönt die finalen Triebkräfte der Strauss-Musik mit der wünschenswerten Dynamik, Entschiedenheit und Süffisanz – und fördert mit dem eigenen Überdruss am luxurierenden und fordernden Leben den an jenem Spiel, das die Prinzessin bis zum Exzess treibt. Dass sie den Kopf des Jochanaan II erhält (und wie dies nun von einer modernen Hochleistungs-Gefangenenenverwaltung säuberlich-korrekt bewerkstelligt wird), das ist eine Theaterbildsequenz, die auch hartgesottene Theatergänger so schnell nicht vergessen dürfte: Die live-Kamera ist auch da ganz dicht dabei. Aber es wird dann doch zur Schonung der Zartbesaiteten gepixelt. So dürfte sich noch lange in Erinnerung rufen, dass nicht nur, wie Wilde schrieb, „das Geheimnis der Liebe größer ist als das Geheimnis des Todes“, sondern womöglich auch der Schrecken der Liebe in unabsehbarer Weise verheerend – der Liebe zum fanatischen Glauben wie der zum menschlichen Fleisch.