Wenn es in der Oper so richtig hemmungslos gefühlig wird, dann steckt oft Giacomo Puccini (1858–1924) dahinter. Mit seinen Opern ist dieser Exponent des sogenannten Verismo auch heute noch – nach Rossini und vor allem Verdi – der Italiener, um den kein Opernhaus einen Bogen machen kann (und will). Einige seiner Opern sind echte Dauerbrenner und eine „sichere Bank“. Das gilt für die großen Häuser auch für die kleinen Bühnen. Schließlich kann man als Zuschauer weder der verzweifelt von der Engelsburg in den Tod springenden Floria Tosca noch der sitzengelassenen Butterfly oder der um ihr Kind betrogenen Schwester Angelika das Mitgefühl verweigern. Und natürlich auch nicht der armen und todkranken Mimi, die in Paris mitten in jenem Künstler-Milieu stirbt von dem Puccinis 1896 in Turin uraufgeführte „La Bohème“ ihren Namen hat.
Das Harztheater geht mit Giacomo Puccinis „La Bohème“ auf Reisen
Zum Auftakt der aktuellen Spielzeit gab es etwa an der Deutschen Oper in Berlin die drei Einakter„Il Trittico“ und die Semperoper ging als Auftakt mit einer neuen „Turandot“ in die Vollen.
Es ist gleichwohl alles andere als vermessen, wenn das Harztheater sich jetzt in Halberstadt mit einer Neuinszenierung von „La Bohème“ hier einreiht. Im Unterschied zu Puccinis monströser „Turandot“, wo zwei Psychopaten aus märchenhaftem Hochadel im fernen Peking aufeinandertreffen, einem schwer nachvollziehbaren inneren Kompass folgen und auf ein absurdes Happyend auf einem Berg von Leichen zusteuern, ist das Leben der Künstlerfreunde Rodolfo, Marcello, Schaunard und Collin in ihrer eiskalten Pariser-WG unterm undichten Dach allemal nachvollziehbar. Hier gibt es richtige Menschen, mit ihren Stärken und Schwächen, ihren Träumen und Ängsten.
„La Bohème“ ist auch deshalb für dieses Theater goldrichtig, weil das Haus ein Protagonistenensemble hat, das dieses Stück mit der kollektiven Hauptrolle nicht nur technisch bewältigt, sondern auch das Emphatische in der Musik zum Leuchten bringt. Haustenor Max An stellt seine Strahlemann-Stimme in den Dienst seines Rodolfo, dass es eine Pracht ist. Jessy-Joy Spronk kann man zu einer fabelhaft gefühlvoll, selbstbewussten Mimi gratulieren und sich über das hörbare Reifen ihrer Gestaltungsfähigkeit freuen! Klar, dass Bénédicte Hilbert eine bezaubernd leichtfüßige und leichtsinnig, stets elegante Musetta hinlegt und bei der Begegnung im Café Momus wieder mit ihrem Ex, dem Maler Marcello (Juha Koskela), in einer temperamentvollen Auf-und-Ab-Beziehung wieder zusammenkommt. Samuel Berlad und Gijs Nijkamp komplettieren das Quartett der Künstlerfreunde. Thomas Kiunke bietet das Quantum komödiantischen Talents auf, das für den vergeblich aufkreuzenden Vermieter Benoit und den abservierten Musetta-Verehrer Alcindor nötig ist. Der Parpignol ist mit Se Jun Park ebenso passend besetzt, wie die kleineren Rollen. Der Kinderchor, der via Zuschauerraum die Bühne für den Weihnachtsmarktrummel kapert und von Julia Domaseva und Jan Rozehnal bestens einstudiert wurde ist mit Feuereifer und glasklar bei der Sache.
So wie die Harzer Sinfoniker unter Leitung von Musikdirektor Johannes Rieger voll auf einen lustvollen Puccini-Sound setzten, der nicht verleugnet, dass er berühren will.
Ein Geschenk für das Harztheater und seine Reise
Dass es Andrea Maczko (Regie) und Robert Pflanz (Bühne und Kostüme) in ihrer Inszenierung dabei nicht um einen ambitionierten Meilenstein für die Rezeptionsgeschichte geht, sondern mehr darum, ein populäres Werk im Gedächtnis ihres Stammpublikums vor Ort zu halten, ist dabei genauso legitim wie die Absicht, damit das Haus (auch in theaterschwierigen Zeiten) vollzubekommen und das Publikum nach der Coronazwangsausbremsung zurückzugewinnen. Und so braucht in Halberstadt niemand eine Übersetzungsanleitung, um das, was er zu sehen bekommt, mit dem in Übereinstimmung zu bringen, was er über diese Oper zu wissen meint. Zum Auftakt gönnt sich die Bühne ein ironisches Augenzwinkern: so, wie in dem berühmten Spitzweg-Bild vom armen Poeten, liegt der Dichter da im Bett unterm aufgespannten Regenschirm. Den Kanonenofen können die hungernden Mietschuldner nur mit seinem Drama beheizen. Wirkliche Wärme bringt das nicht. Die kommt letztlich nur aus dem menschlichen Miteinander, das alle am Bett der sterbenden Mimi vereint.
Vom Premierenpublikum ist einhelliger Jubel zu vermelden!
Nächste Vorstellungen des Harztheaters mit „La Bohème“: 15.10. (16.00) Stendal | 28.10. (19.30) Arnstadt | 3.11. (19.30) Halberstadt | 12.11. (16.00) Wolfenbüttel |19.11. (16.00) Bernburg | 1.12. (19.30) Halberstadt | 9.12. (18.00) Quedlinburg | 25.12. (18.00) Halberstadt | 18.1.2024 (19.30) Rheine | 3.2. (18.00) Halberstadt
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