Ein Klavier, acht Kontrabässe, ein Holzwürfel: Aus Galina Ustwolskajas Tag des Zorns gibt es kein Entrinnen. Man ist ihm ausgeliefert, als säße man selbst in dieser Kiste, auf die ein Hammer einschlägt. Auch das „Dona nobis pacem“, das dem „Dies irae“ in diesem Zyklus dreier „Kompositionen“ vorausgeht, ist mit seiner Besetzung aus Piccoloflöte, Tuba und Klavier eher ein schmerzverzerrter Schrei nach Frieden als dessen musikalisches Abbild.
Es herrscht eine eigentümlich zwischen Beklemmung und spiritueller Energie changierende Stimmung an diesem späten Samstag Abend in der Kölner Basilika St. Apos-teln. Im Westteil des Kirchenschiffes wachen die überlebensgroßen Skulpturen der Apostel Petrus und Paulus über den Eingang zur Krypta und über die davor postierten Instrumente. Als dritte und letzte Station an diesem Eröffnungstag des Kölner Acht Brücken Festivals ist damit die höchste atmosphärische Dichte und Spannung erreicht, die sich erst am Ende der „Komposition Nr. 3“, einem etwas ruhiger auslaufenden, zuvor aber nicht weniger unerbittlich zugespitzten „Benedictus“ für vier Flöten, vier Fagotte und Klavier, ein Stück weit löst.
Galina Ustwolskajas Œuvre bildete den idealen Ausgangspunkt für die Frage nach „Musik und Glaube“, die das Festival für seine sechste Ausgabe gestellt hatte. Oft mit christlichen Titeln und Texten versehen, handelt es sich gleichwohl nicht um im engeren Sinne religiöse oder gar liturgische Werke. Vielmehr sind diese Verweise Ausdruck eines Ringens um kompromisslose Wahrhaftigkeit, um eine Spiritualität, die nichts mit esoterisch-gefühligen Heilsversprechungen zu tun hat, sondern rückhaltlos die Konfrontation mit letzten Dingen sucht.
Zudem bot ihr schmales Gesamtwerk die Möglichkeit, es im Lauf der elf Tage praktisch vollständig aufzuführen, allein am Eröffnungstag erklang mit neun Stücken über ein Drittel davon. Dabei war es faszinierend nachzuverfolgen, wie die Komponistin im Rahmen wiederkehrender Stilmerkmale – etwa der perkussive Klavierstil und die obsessiven Wiederholungen motivischer Verläufe – für jedes Werk einen ganz eigenen Tonfall, eine unverwechselbare Dramaturgie gefunden hat. Die räumlichen Wechsel erhöhten diesen Reiz noch.
So erklangen das Große Duett für Cello und Klavier und die Sinfonien drei bis fünf, von denen nur die letzte annähernd sinfonisch besetzt ist, im Konferenzraum der noch im Bau befindlichen Zentralmoschee, wo das Festival mit dem DITIB Sufi-Ensemble auch eröffnet worden war. Die betontrockene Akustik wurde den schroff zerklüfteten Werken Ustwolskajas insgesamt durchaus gerecht, dem Gesangspart der vierten Sinfonie allerdings weniger.
Der Wechsel in die St. Michaelskirche gab den Frühwerken von 1949/50, dem Trio für Klarinette, Violine und Klavier und dem Oktett, den nötigen Resonanzraum. Was Klarinettist Carl Rosman am Ende des ersten Triosatzes an Zartheit der Lininenführung leistete, war exemplarisch. Wie überhaupt die Mitglieder des Ensemble Musikfabrik – die größeren Besetzungen leitete Christian Eggen – sich mit einem Furor in die Abgründe stürzten, der einem den Atem raubte.
Daneben mussten die zerbrechlichen Uraufführungen eines Toshio Hosokawa fast zwangsläufig verblassen. Vor allem das über Klavierarpeggien nahezu impressionistisch anhebende Quintett „Silent River“ und die – von Peter Veale famos geblasenen – „Three Essays“ für Oboe solo wurden vom Kraftfeld der Ustwolskaja praktisch neutralisiert. Auch hier mag die Moschee-Akus-tik eine Rolle gespielt haben, die Bariolage-Echo-Studie über die leere a- und die leere g-Saite „Ibuki (Atem)“ für Viola solo jedenfalls vermochte sich unter Axel Poraths sorgfältigen Händen in St. Michael gut zu behaupten.
Am zweiten Festivaltag lockten diverse Chorkonzerte bei freiem Eintritt ein buntes, interessiertes Publikum an. Einen Höhepunkt bildete gleich zu Beginn Alfred Schnittkes Requiem, eine kraftvolle Stilcollage, der man den Kompositionsanlass als Schauspielmusik zu Schillers „Don Carlos“ anmerkt, ohne dass man sich die dazu passende Aufführung so recht ausmalen könnte. Der Europäische Kammerchor und das in Kooperation mit der Kölner Musikhochschule zusammengestellte Instrumentalensemble „Dans le temps“ unter der Leitung von Michael Reif blieben der Rarität nichts an Präzision und Doppelbödigkeit schuldig.
Während das Programm der Kölner Kantorei unter Georg Hage mit seinem Shakespeare-Schwerpunkt nicht so recht zum Festivalkontext passen wollte, suchte der RochusChor mit Beteiligung von Saz, Baglama und Djoze den religiös-kulturellen Brückenschlag, unter anderem mit einem Werk des Chorleiters Wilfried Kaets („HimmelsErde“), das mit Glasharfen und Zuspielungen reizvolle Klangwirkungen in der Minoritenkirche entfaltete.
Zurück im WDR-Funkhaus, präsentierte die Kartäuserkantorei Köln unter Paul Krämer die Neufassung der Komposition „O Sacrum Convivium“ von Camille van Lunen, die aus der Zusammenarbeit mit Flüchtlingen aus dem letztjährigen Acht Brücken Festival heraus entstanden ist. Die Gegen-überstellung von „O Mare Nostrum“ mit dem Ausgangswerk machte deutlich, wie ein sich veränderndes Umfeld, eine aktuelle Krise und die Begegnung mit menschlichen Schicksalen sich in der kompositorischen Substanz niederschlagen können. Die gelungene Einbindung der Flüchtlingschöre mittels Summen, Sprechen und einfachen Gesangslinien legte davon Zeugnis ab.
Wie kaum ein anderer Komponist des 20. Jahrhunderts steht Olivier Messiaen für die enge Verbindung von Musik und Glaube. Das 1969 vollendete Oratorium „La Tansfiguration de Notre-Seigneur-Jésus-Christ“ übertrifft mit seiner Chorbesetzung noch einmal die Dimensionen seiner großen, abendfüllenden Orchesterwerke. Dieses einmal in höchster instrumentaler und vokaler Qualität zur Diskussion gestellt zu haben, war das große Verdienst der Festivalveranstalter – Garanten hierfür waren die Chöre der Kölner Dommusik, die Vokalensembles Kölner Dom und „Udin d’ART“ sowie die Junge Deutsche Philharmonie, nonchalant und effizient koordiniert von Bruno Mantovani.
Dem Überwältigungspotenzial einiger Phasen und den virtuosen Soloinstrumental-Abschnitten zum Trotz, blieben freilich auch Zweifel an der strengen, in zwei parallel geführte Teile zu je sieben Sätzen gegliederten Dramaturgie des Werks. Vor allem bei den einstimmigen Chorpassagen wurde man den Eindruck nicht los, ob Messiaen hier nicht einer allzu starren und damit das Vorbild missverstehenden Auffassung des gregorianischen Chorals erlegen ist. Ein Ereignis war dieser Abschluss des Acht-Brücken-Eröffnungswochenendes in der Kölner Philharmonie gleichwohl, auch wenn man sich bisweilen ins Innere des Ustwolskaja-Würfels zurückzusehnen glaubte.