Die Uraufführungen jener drei Kompositionen, welche musikalisch die Grundlage des neuen Ballettabends an der Staatsoper im Schillertheater bilden, liegen lange zurück; aber stärker als die Komposition und das Datum ihrer Uraufführung zählt im Ballett das Datum der choreografischen Realisierung, und so wurde die jüngste Premiere als „Uraufführung“ angekündigt. Daniel Barenboim am Pult ging es um eine französische Linie bis hin zur Pariser „Sacre“-Uraufführung, und so stellte er Strawinskys nur gut 30-minütigem Bühnenwerk „Le Sacre du Printemps“ (1913) vor der Pause eine Szene aus Berlioz’ „Roméo et Juliette“ (1839) sowie Debussys „L'Après-midi d'un Faune“ (1894) voran.
Wirklich neu war am Premierenabend nur die Debussy-Choreographie. Mit dem für den Ausgang des 19. Jahrhunderts in Malerei, Poesie und Musik so wichtigen Bild des Fauns weiß offenbar ein junges Publikum wenig mehr anzufangen. Und so sind in Sasha Waltz’ Choreographie und Regie 13 Tanzende vor einem vierfarbigen Aushang mehr Menschen-Affen als mythische Wesen. Wie ein Rudelanführer fällt einer der Tänzer über einen anderen her, und einem, der sein modernistisches Design-Top abgelegt hat, krault ein anderer liebkosend den Rücken. Insgesamt wirkt diese Arbeit nur wie die Fingerübung einer ingeniösen Choreografin. An dieser Stelle hätte sich der Rezensent den Vergleich von Debussys Faun mit Felix Mottls „Pan im Busch“ (auf ein Libretto von Otto Julius Bierbaum) gewünscht, allzumal in der Deutung von Daniel Barenboim als einem den Mottlschen Interpretationen adäquaten Wagner-Interpreten.
Auch die „Scène d'Amour“, ein Ausschnitt aus der Produktion von Berlioz’ „Roméo et Juliette“ an der Opéra National de Paris, erweist sich als ein mehr oder weniger klassisches Pas de Deux (getanzt von Emanuela Montanari und Antonino Sutera), mit Hebungen und gemeinsamem Bodenrollen auf geringer weißer Schräge im schwarzen Raum.
Ganz andere Kraft und choreographische Handschrift beweist Waltz dann nach der Pause mit „Sacre“, das – nach der Uraufführung von Sascha Waltz’ Choreografie in St. Petersburg, anlässlich des 100-jährigen Jubiläums des Marijnski-Balletts – an diesem Abend seine Deutschland-Premiere erlebte.
Die Choreographin hatte angekündigt, die familiären Bindungen in der Gesellschaft deutlich machen zu wollen. Daher hatte sie in die Gruppe der 28 Tänzer einige Kinder integriert, die aber in ihrer Körpergröße kaum auffallen. Inhaltlich vermittelt sich diese Intention in der Gesellschaft aus Paaren und Dreiergruppen ebenso wenig, wie Bezüge zur Originalgeschichte der „Szenen aus dem heidnischen Russland“ im Libretto von Nikolai Konstantinowitsch Rjorich gegeben sind, oder die von Waltz selbst intendierte „Wechselwirkung Geburt-Tod“ besonders stark herausgearbeitet scheint. Waltz, neben Pia Maier Schriever fürs Bühnenbild ausdrücklich mitverantwortlich, hatte sich im Kostüm von Bernd Skodzig metallische und erdartige Elemente und in der Dekoration Vulkanisches und Metallisches gewünscht; Bestandteile eines steinartigen Haufens in der Mitte der Bühne werden von den Tanzenden langsam immer mehr im Raum verteilt, während sich von oben ein gigantisches Damoklesschwert zentral herabsenkt und am Ende den Tod des Opfers auslöst.
Diese Choreographie besitzt ritualisierte Kraft, mit hüpfenden Vorwärtsbewegungen, brutalen Hebungen und Schleifungen von fünf potenziellen, weiblichen Opfern. Bewegungsabläufe und Gestik werden bestimmt von einer heute allgemein üblichen Choreografiesprache, mit klatschenden Schlägen der Tänzerinnen gegen eigene Körperteile. Hörbares Atmen der Erschöpfung und Stöhnen der Koitierenden, auch in deutlich gesetzten Pausen vor den Szenenabschnitten der Komposition. Dabei dominiert in den Formationen der Tanzenden eine starke rhythmische Umsetzung der Struktur von Strawinskys Komposition. Insbesondere mit dem Opfertanz der Auserwählten nimmt Waltz Bezug auf Pina Bauschs Deutung vor knapp 40 Jahren. In deren Choreografie hatte sich das Opfer in panischen Zappelbewegungen zu Tode getanzt und dabei das rote Kleid von seinen Schultern und Brüsten rutschen lassen; diesen Effekt steigert Sascha Waltz, indem die Solistin das ihr als ausgewähltes Opfer übergezogene rote Gewand und ihren Schlüpfer ganz bewusst auszieht, um den fulminanten Höhepunkt dieser Komposition völlig nackt zu exerzieren.
Der große Vorteil gegenüber den Choreografien von Pina Bausch und Hans van Manen, jeweils zur Schallplattenaufnahme unter Pierre Boulez, ist in Berlin der Live-Orchesterklang. Bereits nach der Pause gab es Ovationen für Barenboim und die Staatskapelle Berlin, die bei Strawinsky noch über sich selbst hinauszuwachsen schien. In Barenboims Debussy-Interpretation wird deutlich, wie stark die französische Musik des ausgehenden 19. Jahrhunderts von Richard Wagner beeinflusst wurde, allerdings weniger, wie häufig zu lesen, durch „Tristan und Isolde“ (obgleich das Englischhorn des dritten Aufzugs sogar den Bogen zum Anfang des „Sacre“ schlägt), als durch die Pariser Version des „Tannhäuser“. Und den werden Daniel Barenboim und Sascha Waltz als Regisseurin und Choreografin im nächsten Frühjahr an der Staatsoper herausbringen; darauf darf man wohl, aufgrund eines (auch beim Applaus demonstrierten) sehr engen Zusammenwirkens von Barenboim und Waltz gespannt sein.
Leider wird „Sacre“, eine „Produktion von Sasha Waltz & Guests in Koproduktion mit dem Mariinsky Theater St. Petersburg und dem Théâtre Royal de la Monnaie, Brüssel, Made in Radialsystem“ in Berlin vorerst nur eine, bereits seit langem ausverkaufte, Wiederholung erleben. Enthusiastischer Beifall, mit Pfiffen wie beim Popkonzert.
- Weitere Aufführung: 2. November 2013.