Die Stadtexistenz ist ein weit zurückreichendes Thema. Den von Herzen der ländlichen Idylle verbundenen deutschen Romantikern erschien „die Stadt“ in denkwürdiger Entrückung als Nebel- oder Weichbild „am fernen Horizonte“. Doch waren die Künste ihr nicht nur in der Regel nah (die Städte bildeten ganz überwiegend Basis und Rahmen), sondern die Metropolen haben im 19. und 20. Jahrhundert illuminiert, wurden zudringlich und sind auf die intensivste Weise ins Innere der Kunstbezirke eingerückt. Ihr Puls begann Zeitverläufe zu strukturieren, zu beschleunigen und zu takten, Zäsuren und Fermaten zu setzen. Ihre Geräuschpegelstände haben Musik evoziert und aus der Polyphonie der Großstadt erwuchs eine ganze Literatur.
Zu den Stadtmusiken großen Formats gehört die teilweise von Text angereicherte und Gesang überlagerte Orchestersuite „Surrogate Cities“, die 1994 von der Jungen Deutschen Philharmonie uraufgeführt, 1996 auf CD eingespielt wurde. Sie vor allem begründete den Ruf von Heiner Goebbels als ernst zu nehmendem Komponisten. Zuvor hatte dieser sich in Frankfurt als Stimmführer eines „Sogenannten Linksradikalen Blasorchesters“ und als Sampler-Experte profiliert. Beides verweist darauf, dass sich Goebbels seit seiner Studienzeit theoretisch und mehr noch praktisch mit dem Verhältnis von Individuum und Masse befasste. Ausarbeitungen zu den musikalischen Wechselwirkungen zwischen den Einzelnen und den Kollektiven unterschiedlicher Provenienz und Größe ziehen sich als roter Faden durch das Œuvre dieses Musikers und Regisseurs.
Kraftzentrale
Die Kraftzentrale im Industrielandschaftpark Duisburg-Nord machte ihrem Namen neuerlich alle Ehre. Zwei einander gegenübergesetzte Zuhörertribünen fassen die riesigweite Spielfläche ein. Die Bochumer Symphoniker, postiert in der Mitte der gigantischen Halle aus den größten Zeiten der deutschen Schwerindustrie, bewiesen die besonderen Qualitäten der als Ouverture gesetzten Orchester-Pièce „D & C“. Hier kommt die aufgewühlte, lärmend zuschlagende, reizüberflutete Stadt zu ihrem unmittelbaren Ausdruck – und der Klangkörper aus dem Herzen des Ruhrgebiets entledigt sich unter Leitung seines Chefs Steven Sloane seiner Aufgabe mit Spielfreude und Bravour. Das „groovt“. Synkopisch strukturierte Maschinengeräuschimitate bohren sich in die Ohren, Sforzato-Schläge im Wechsel mit Liegetönen, über denen sich rasche Klangfiguren in freien Rhythmen erheben. Die Frische dieser Musik erscheint nicht von Akademismus angekränkelt. Wohldosierte Repetitionsexzesse erhalten die Freundschaft. Eindrucksvolle Blechchoräle mögen auf imposante urbane Architektur verweisen. Insgesamt eine artifizielle und doch so herzhaft zupackende Intrada, in die so mancherlei Material aus verschiedenen Zonen der Musikgeschichte eingewandert ist – und zuvorderst die Idee von beredter Programm-Musik (eine der großen, dann als ambivalent wahrgenommenen Errungenschaften des 19. Jahrhunderts).
Jäher Licht- und Klimawechsel ergibt sich mit dem Übergang zum zweiten Satz: „In the Country of Last Things“. David Moss zelebriert mit manieriert rauchiger Stimme Paul Austers Text-Fleckerl vom Verschwinden so vieler Dinge, die der Moloch Stadt auffrisst: „An einem Tag ist ein Haus noch da, am nächsten ist es weg. … Nichts bleibt, verstehst du … Ist etwas erst einmal weg, dann für immer“. Ist es denn so, fragt sich der Hörer nach zwanzig Jahren entschiedener als 1994. Haben die Städte nicht längst die Musealisierung der mittelalterlichen Inseln in den inneren Bezirken entdeckt und ins Werk gesetzt, die Restauration der Gründerzeit- und Jugendstilviertel und die Konservierung von Bausubstanz aus den Pionierjahren der Moderne oder des Plattenbaus? Aber diese Restauration ist nicht mehr das „Authentische“ – und schon gar nicht im Gefühlshaushalt der Geschmacksträgerschichten.
Neuer sozialer Kontext
Heiner Goebbels hat die Partitur der 90er Jahre im wesentlichen belassen, sie – als (Klang-)Regisseur des Abends – freilich in einen neuen Kontext eingebracht. Und der ist im engeren Sinn sozial definiert und politisch eingebunden. Zuvorderst in Jugendarbeit. Zwei Schülerinnen treibt die Inszenierung aus den Katakomben der Tribünen. Sie führen beide eine Kreide in der Hand, ziehen lange Linien auf den mit einem speziellen Belag aufbereiteten Betonboden. In ihrem Gefolge entern Scharen von Jungen und Mädchen, aber auch einzelnen älteren Personen, die Areale rings um das Orchester und kreiden Kreise, Schlingen und Ganglien auf die Fläche. Sie strukturieren, verplanen, tätowieren sie in wundersam chaotischer Ordnung, bebauen sie zeitweise mit bunten Pappkartons für die unterschiedlichsten Produktgruppen. Derweil stößt Jocelyn B. Smith von einer hohen Altane Schreie aus, die von einem sterbenden Kapaun herzurühren scheinen. „These are the last things“, raunt Moss, „that is what the city does to you”. Und kommt zur Konklusion: „And if you don’t, you never will again“.
Der Regisseur und mehr noch die ihm assistierende Pariser Choreographin Mathilde Monnier führten bildungs- und hochkunstferne Bevölkerungskreise der Ruhrtriennale zu – von der Gemeinschaftsgrundschule Tonstraße (die Wahl scheint bei einer musikgestützten Produktion durchaus tiefsinnig) über Hip-Hop-Tänzer, einen mit Aerobic-Vorführung sich mühenden Seniorenausflug, stabschwingende Schreittänze als Eurythmie-Erinnerungen (Dornach, dich grüßen wir!) bis zum Tanzsportclub Dortmund e.V., der gekonnt an der Musik vorbeitanzt. Oder zum Dao Wing Chun-Team aus Duisburg, das für Kickboxen und andere asiatische Kampfsportarten zuständig ist. Dessen Häuptling schafft klare Verhältnisse, indem er alle SportpartnerInnen flach legt. Die Heimatbindung wurde durchs Einblenden von Ortsteil- und Haltestellen-Namen auf den obligatorischen Video-Screens noch unterstrichen, als wären nicht die übrigen Accessoires schon ruhrgebietig genug gewesen.
Zwölf Dutzend Schulpflichtige und erwachsene Amateure aus den umliegenden Städten wurden evaluiert, selektiert und organisiert, um die Lebendigkeit heutiger Stadtkultur vor Augen zu führen. Das darf als Demonstration für die kultur- und integrationspolitischen Ziele der sozialdemokratisch-grünen Landesregierung von Nordrhein-Westfalen und deren Kraftentfaltung verstanden werden. Keiner der bisherigen Festival-Intendanten hat so schlicht und treuherzig das Musikergesetz Nr. 1 vor Augen und Ohren geführt: „Wes Brot ich ess‘, des Lied ich sing‘ (wobei es sich bei Goebbels nicht um Schwarzbrot, sondern Kaviar und Saint-Jacques handelt). Das Orchester schreitet derweil von der Sarabande und Allemande bis zur Gavotte und Air voran. Die in vielerlei Gestalten und Farben sprudelnde Tonquelle tritt mit dem Treiben, das sie umgibt, in keine definierbare Beziehung. Das ist auch nicht nötig. Die vielen Mitwirkenden und deren auf den Tribünen versammelten Angehörige finden sich und es ja ohnehin ‚super‘ – Dabeisein ist alles.
Kinder und Pädagogen samt einem mehr oder minder repräsentativen Querschnitt der Freizeitunterhaltenen lassen sich mit einem scheinbar lockeren, bei genauem Hinsehen aber auf Drill basierenden Bewegungsprogramm durch die Manege ziehen – vermittels der magischen Kraft der Teilhabe an öffentlicher Aufmerksamkeit. Ein Junge blieb beim dynamisch pulsierenden Finale („Surrogate“) verträumt neben den anderen stehen, die sich in so klar vorgeschriebenen Bahnen „kreativ“ bewegten. Er hatte vergessen, was zu tun ihm auferlegt war und sich der Bürde der sozialpolitisch motivierten Partizipation an „Kunst“ durch Gedankenschlag entzogen. Auf ihn müssten sich die größten Hoffnungen dieses Abends richten – er könnte Verweigerer werden. Denn was Goebbels gelingt, das ist die höchste Stufe sozialdemokratisierter Musiktheater- und -therapie-Praxis, die verschiedenste Zweige der Freizeitindustrie organisatorisch erfasst und nicht nur an sich motiviert, sondern mit der Koalition der Gutwilligen von der Schule bis zum Seniorenheim dem an Sinn- und Formkrisen laborierenden Profibetrieb frisches Blut zuführt.
Gebrauch von Kindern
Nach der Debatte über den Missbrauch von Kindern und Jugendlichen ist eine über ihren Gebrauch seitens des Theaters fällig – und ggf. dann auch gleich noch die über den Einsatz von Katz, Hund, Pferd oder den pittoresken Auftrieb von hundert Schafen bei „De Materie“ (am selben Ort). Durch ihn wird womöglich die Funktion der zweibeinigen Amateure im Dienst des Regisseurs Goebbels ins rechte Licht gerückt. Würde sich dieser breit aufgestellte Künstler doch wieder auf das beschränken, was er originär mit „Surrogate Cities“ versprochen hatte („die Stadt als Text zu lesen, etwas aus ihrer Mechanik, Architektur in Musik zu übersetzen …“) und nicht nochmals Politik machen wollen (wozu es seit Wagner die Gesamtkunstwerker aber immer wieder unaufhaltsam drängt)!
Zu den faszinierenden Momenten der „Surrogate Cities Ruhr“ gehört der Einsatz von Jocelyn B. Smith. Wie sie die ins Englische übersetzen drei Horatier-Gedichte Heiner Müllers in atemberaubende Höhen treibt, als wäre sie eine Bachtrompete, dann aber wieder – und gerade auch in Extremlagen – eine Weichheit der Empathie freisetzt, das gehört zu den hinreißenden Momenten des Musiktheatergesangs. Sie singt – nicht anders als die Sirenen von Rolf Riehm, der wie Goebbels dem „Sogenannten Linksradikalen Blasorchester“ entstammt, von einem uralten Mythos: dem der Stadt. Der ewigen Stadt im Konkreten („Rome has conquered“) und doch der Urbanität im Allgemeinen. Während es Kritiker gibt, die Riehms Mythenrekurs für „verschwurbelt“ erachten, bleibt ihnen der analoge von Goebbels unbeachtet. Er geht freilich in beiden Fällen in voller Höhe in Ordnung – und in der Stimme der New Yorker Leadsängerin Smith kommen beide zusammen.