Die Bayreuther Festspielgeschichte lehrt, dass selbst Skandal-Inszenierungen im Laufe einiger Jahre ihren Frieden mit dem Publikum machen, verstanden und sogar goutiert werden und sich vom Skandalon zum Publikumsliebling wandeln, wie etwa die „Ring“-Inszenierung von Patrice Chéreau oder zuletzt Hans Neuenfels’ Rattenmärchen-Version des „Lohengrin“. Anders verhält es sich mit der jüngsten „Tristan“-Inszenierung der Wagner-Urenkelin Katharina und ihrer eigenwilligen Lesart.
Als die Festspielleiterin mit den Kolleg_innen ihres „Tristan“-Produktionsteams auf die Bühne kam, durchsetzten wütende Buhrufe den Applaus. In dieser Teamreihe fehlte der Dirigent: Christian Thielemann trat alleine vor den Vorhang um sich in Beifallsstürmen zu baden.
Aber das Skandalon, der Stolperstein, liegt bereits in Richard Wagners Partitur. Als der Komponist seine Muse und Geliebte Mathilde Wesendonck verlassen musste, um einsam im erneut gewählten Exil, in Venedig, den Schlussakt des leidenden Tristan zu komponieren, wartete wohl auch Wagner insgeheim vergeblich darauf, dass die Freundin zu ihm übers Meer käme. Beide hatten sich wohl geschworen, wieder zueinander zu kommen und hatten sich sexuelle Enthaltsamkeit versprochen; als Mathilde Wesendonck ein Jahr später ein Kind von ihrem Gatten Otto bekam, konstatierte Wagner, er habe einen anderen Begriff von Enthaltsamkeit. Das Leben spielte, wie in der Inspiration des Künstlers vorgezeichnet. Auch Isolde folgt dem todwunden Tristan nicht nach Kareol. Dass sie dann später doch noch, übers Meer kommend, dort eintrifft, haben bereits andere Regisseure vor Katharina Wagner als Fiebervisionen gedeutet – so auch in Bayreuth bereits Jean-Pierre Ponnelle.
Die Tragik in der Liebesgeschichte, dass die beiden Liebenden sich lebend nicht mehr in die Arme nehmen können, ist bereits in der Spielvorlage vorgezeichnet. Isoldes „Verklärung“, wie Wagner den gemeinhin als „Liebestod“ bezeichneten Schlussgesang der Isolde nennt, vermag darüber nur wenig hinwegzutrösten. Die Regisseurin aber lässt Isolde vom machtvollen Potentaten Marke vom Ort des Geschehens gewaltsam wegziehen. Dies nimmt jener Teil des Publikums übel, welcher die romantisch verklärte Liebesgeschichte auch auf der Szene ungebrochen erleben will.
Dabei findet gerade die Liebesgeschichte auch in Katharina Wagners Inszenierung überaus sinnlich und sinnfällig statt. So deutlich, wie in keiner Inszenierung zuvor, ist die mit dem ersten Ton des Orchestervorspiels bereits bestehende, ausweglose Konstellation des sich begehrenden, leidenschaftlich nach einander verlangenden Liebespaares von Anfang an gegeben. In den unwegsamen Machtstrukturen, im Auf und Ab von Treppen und labyrinthischen Irrwegen und zugleich bereits eingeschlossen, agiert das Paar, welches sich dann über alle Konventionen hinwegsetzt, die Metapher des Trinkens eines Liebestrankes gar nicht erst benötigt. Die Umwelt, nennen wir sie die Scheinwerfer der Medien oder die Maschinerie unerbittlicher Grenzen und Gesetze, treibt dann ihr erbarmungsloses Spiel mit den Unangepassten. Im Laboratorium des Terrors, das die Regisseurin mit ihren Ausstattern Frank Philipp Schlößmann und Matthias Lippert konstruiert hat, schaffen sich die Liebenden für Momente Winkel des Glücks, lassen sich ihre innere Überzeugung nicht nehmen und erkennen doch den Tod als einzigen Ausweg.
Das ist klug weitergedacht, gekonnt mit der Entwicklung der Musik in Einklang gebracht und trefflich szenisch gearbeitet. Petra Lang als Isolde ist seit dem Vorjahr stimmlich runder geworden und dabei deutlich gewachsen; im Gedächtnis bleiben Langs fast schon karikierende Charakterisierungen: die Pseudo-Zitate des ihr gesellschaftskonform fern bleibenden Tristan werden in der Übercharakterisierung zu einer verbalen Spitze, um den im selben labyrinthischen Chaos alle Aussagen Isoldes qualvoll rezipierenden Geliebten zur Einlösung des nur durch Blicke offenkundigen, aber unausgesprochenen Liebesverhältnisses zu zwingen.
Stephen Gould als Tristan ist ein Heldentenor alter Schule, der diese Facetten gleichermaßen stimmlich wie darstellerisch erstaunlich umzusetzen vermag. Im dritten Aufzug hat die Regisseurin die Erscheinungen der gesichtslosen Isolde-Doubles in den aufleuchtenden, begehbaren Dreiecken modifiziert, von den geisterbahnartigen Erlebnissen zu repetierend verinnerlichten Erlebnis- und Angstmomenten konzentriert, darunter einem Todessturz der Isolde.
Nie zuvor war eine derart spannende Entwicklung des Diener-Paares zu erleben. Kurwenal, wie Tristan im dritten Akt für seinen Getreuen beschreibt, teilt und verlängert Leiden und Ausweglosigkeit seines Herrn als verlängerter Arm des Gebieters ebenso wie Brangäne; und beide finden folgerichtig partiell sogar als Paar zu einander. Christa Mayer gestaltet die Brangäne darstellerisch und vokal angenehm dunkel timbriert und hinreißend; sie ist auch die Einzige, die an Tristans Lager zurückbleibt. Und Iain Paterson schafft dem Kurwenal eine herrlich sympathische Charakterisierung, gleichermaßen ungewöhnlich und fesselnd. Dass selbst der für seinen samtig weichen Bass bekannte René Pape als König Marke eine sehr viel markigere Stimme einsetzt, zeugt für die Intensität der Probenarbeit an dieser Lesart. Christian Thielemann am Pult sorgt für musikalische Dauerspannung des nicht immer auf einander abgestimmt erklingenden Orchesters. Leider beginnt der Dirigent, wie auch schon beim „Lohengrin“, noch bevor das Publikum nach dem Verlöschen des Lichts zur Ruhe gekommen ist. So konnte auch hier das erste Sehnsuchtsmotiv als die Handlung evozierende, ungelöste Frage nicht zur Geltung kommen.
Ein langjähriger Kenner von Orchestern und Opernhäusern hat mir unlängst im Gespräch definiert, woran man bereits früh am Abend eine Sternstunde erkenne: dann, wenn niemand im Publikum zu husten wagt. Bei der „Tristan“-Premiere fielen während des Vorspiels Gegenstände polternd auf den Boden und es wurde viel gehustet, die Sternstunde schien dahin. Aber dann kamen die gesanglichen Leistungen doch dem erzielten Sternenflug recht nahe.
- Nächste Aufführungen: 13., 16., 24. und 28. August 2018.