Vorurteile sind zäh. Zum Beispiel die über Carl Maria von Webers Oper „Euryanthe“, die am unsäglichen Libretto einer unmöglichen Librettistin gescheitert sei. Man könnte es besser wissen – dank der spannenden Karlsruher Aufführung von 2010, oder durch die eingehendere Beschäftigung mit der deutschen Journalistin und Dichterin Helmine von Chézy. Nun hat sich die Oper Frankfurt, die unter der Intendanz von Bernd Loebe seit langem einen spannenderen Spielplan vorlegt als größere, angeblich wichtigere Häuser, Webers „großer heroisch-romantischer Oper“ angenommen. Und die Dramaturgie leistet in Theaterzeitschrift, Programmbuch und Einführungsvortrag gute Arbeit.
Die Aufführung selbst aber zählt zu jenen Fällen, in denen die klugen Überlegungen der Dramaturgie nicht wirklich zur Regie vorgedrungen sind. Plausible Argumente der szenischen Analytiker sagen: Weber habe trotz aller Meinungsverschiedenheiten an seiner Librettistin festgehalten, denn ihm als synästhetisch denkendem Künstler sei es nicht um die literarische Qualität des Textes als solche gegangen, sondern um das Zusammenwirken der Künste und die hieraus sich ergebenden szenischen Situationen. Die durch von Chézy hervorgerufenen Bilder von Fantasiewelten des Unheimlichen hätten den Komponisten gefesselt, und eigentlich gehöre „Euryanthe“ in den Umkreis der „Schwarzen Romantik“.
Regisseur Johannes Erath, Bühnenbildnerin Heike Scheele, Kostümbildnerin Gesine Völlm und Licht-Designer Joachim Klein bedienen sich zwar aus dem Bildvorrat der gleichnamigen Ausstellung von 2012/2013 im Frankfurter Städel-Museum, doch sie stellen ihn demonstrativ aus anstatt ihn zum Faktor des Bühnengeschehens zu machen. Jede banale Jahrmarkt-Geisterbahn ist unheimlicher als diese Monster-Parade. Das entscheidende, mit einem Tabu belegte Familiengeheimnis von Euryanthes Verlobten Adolar, das die Intrige gegen sie überhaupt erst ermöglicht, nämlich der Selbstmord seiner Schwester Emma, ist gar keines, da eben diese Emma von Anfang an weiß-verschleiert über die Bühne geistert. Euryanthe ist durch ähnliche Kostümierung gleich als Wiedergängerin ihrer Schwägerin zu erkennen, so dass am Ausgang der Geschichte kein Zweifel besteht. Dass im Verlauf der Aufführung hinter der Bühne des großen Festsaals eine repräsentative Grabanlage für Emma aufscheint, ist zwar eine überraschende und optisch ansprechende Lösung, doch widerspricht sie der Logik einer Handlung, in der es nicht um Dekoration, sondern um Psychologie geht.
Der Hofstaat der Ritter steht zwar laut Dramaturgie für eine Krieger-Gesellschaft, die sich nach erfolgreichem Feldzug neue Ventile für ihre Kampfeslust sucht, doch auf der Bühne der Frankfurter Oper erlebt man gesetzte Damen und Herren im besten Alter, denen man ein wirkliches Interesse an dem leichtsinnigen Wettbewerb um Euryanthes Treue nicht wirklich zutrauen mag. Dass „Euryanthe“ die Personenkonstellation in Wagners „Lohengrin“ inspiriert hat, ist bekannt. Dennoch ist Weber nicht gedient, wenn man ihn von rückwärts her denkt und seine Partien mit schwerem Wagner-Pathos vortragen lässt. Die Titelrolle bei der Wiener Uraufführung 1823 sang eine 17-jährige! Und wer schließt eine solch leichtsinnige Cosi-fan-tutte-Wette um eheliche Treue ab, wenn nicht jugendliche Draufgänger?
Eric Cutler als Adolar bleibt in der Ausstrahlung blass, Erika Sunnegårdhs Euryanthe schwankt im Ausdruck zwischen langweiliger Weltentrückung und unerwarteter Zickigkeit, und Heidi Meltons rothaarige Eglantine ist eine souveräne Intrigantin wie aus dem Bilderbuch. Nur James Rutherford lässt aufhorchen, wenn er den Bösewicht Lysiander gegen den Strich zeichnet und ihm vorübergehend weiche, sympathische Züge verleiht. Kihwan Sim als König mit Papierkrone wirkt so unscheinbar, als ob er gar keinen Einfluss auf die Handlung hätte. Einzig das junge Paar Katharina Ruckgaber und Michael Porter imponiert durch jugendliche Ausstrahlung.
Das Frankfurter Opern-und Museumsorchester unter Roland Kluttig spielt engagiert, farbig und präzise. Nur fragt man sich alle Nase lang, welcher Teufel Weber geritten haben könnte, zu einem derart drögen Bühnengeschehen eine solch gespannte, spannende Musik zu schreiben. Oder eben, warum denn bloß von den seelischen Abgründen, die aus dieser Musik tönen, so gar nichts zu sehen und zu spüren ist.
Wenn dann am Ende Zuschauer das Opernhaus mit den Worten verlassen: „Der Text war ja furchtbar. Aber die Musik war schön. Und die Inszenierung auch“, dann weiß man, dass das Euryanthe-Klischee noch Zukunft hat. Schade – auch für die Oper Frankfurt, die doch gerade erst mit Mieczslaw Weinbergs „Passagierin“ gezeigt hat, was aufregend tiefschürfendes Musiktheater ist!