Das mittelhessische Gießen ist nicht nur Ort eines lebendigen Stadttheaters mit einem abwechlungs- und entdeckungsreichen Musiktheater-Spielplan, sondern auch Sitz des renommierten Instituts für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität. Dessen Leitung hatte von 2003-2011 der Komponist, Hörspielautor und Regisseur Heiner Goebbels inne. Seine Lehrtätigkeit dort währte noch länger – von 1999 bis zu diesem Frühjahr. Goebbels versteht Theater als „Labor“, als „lebendigen, sich täglich verändernden Forschungsgegenstand“. Nun hat er am Stadttheater Gießen ein eigenes Programm gestaltet: Ein szenisches Konzert unter dem Titel mit einem Namen aus einem alten Buch. Im Publikum der 5. Vorstellung sitzen Opernabonnenten neben jungen Theater-Freaks.
Im Gegensatz zur traditionellen Gattung Oper, in der die Musik die höchste Bedeutung und die höchste Verbindlichkeit genießt, geht Heiner Goebbels als Komponist, Regisseur und Hochschullehrer ein Theaterprojekt anders an. Es beginnt „mindestens ein Jahr vor der Premiere in einer ersten Probe mit allen Darstellern und mit allen Mitteln – auch mit Licht, Ton und Raum.“ Seine Stücke sind also „keine Kompositionen, die vorher feststehen, die notiert sind; sondern sie entstehen nur kooperativ in der langen Probenzeit.“ Und wie ein zunächst rätselhaftes Heiner-Müller-Zitat im Gießener Programmheft besagt, ist auch der Text für ihn keine konstante Größe. Dahinter steckt ein seinerzeit berühmtes Happening des Künstlers Joseph Beuys, der 1974 unter dem Motto I like America and America likes Me mehrere Tage und Nächte in einen Raum einer New Yorker Galerie mit einem anfänglich verängstigten, dann zunehmend zutraulichen Koyoten namens Little John verbrachte. Dazu sagte Heiner Goebbels‘ langjähriger Arbeitspartner, der Schriftsteller Heiner Müller, in einem Interview: „Der Text ist der Coyote. ... Und man weiß nicht, wie der sich verhält.… Aber wie sage ich das einem Schauspieler, der gewöhnt ist, als ein Beamter mit dem Text umzugehen, den Text bestenfalls zu verwalten. Oder sogar zu administrieren. Eben daran denke ich, wenn ich meine, dass die Zeit des Textes im Theater erst kommen wird.“
Entsprechend hat Goebbels sein Gießener Programm zwar aus älteren Stücken zusammengesetzt, diese jedoch in einen neuen Zusammenhang gestellt, sie neu befragt und zum Teil neu bearbeitet. Er selbst zeichnet dabei für Konzeption, Musik und Regie verantwortlich, zusammen mit Monika Gora auch für die Ausstattung, und gemeinsam mit Jan Bregenzer für die Lichtgestaltung. Das Videodesign liegt in den Händen von René Liebert, die Klangregie bei Felix Dreher. Sänger sind nicht beteiligt, dafür David Bennent und Lisa Charlotte Friedrich als Textrezitatoren und Schauspieler, und ein Orchester aus insgesamt vier Streichern, vier Holzbläsern, sechs Blechbläsern, zwei Klavieren, einem Schlagzeug, einer E-Gitarre und einem Sampler – teils Mitglieder des Philharmonischen Orchesters Gießen, teils Gastsolisten. Am Pult steht Pablo Druker, seit 2017 Chefdirigent des Orchesters Teatro Argentino de La Plata in Buenos Aires, aber schon seit längerem ein gefragter Gast in Deutschland, vor allem auf dem Gebiet der Neuen Musik.
Das erste Stück des Programms, „Befreiung“, entstand 1989 zum 200. Jahrestag der französischen Revolution als Auftragswerk für die Alte Oper in Frankfurt – und zwar vor dem historischen Umbruch in Osteuropa, als das Wort „Revolution“ nicht viel mehr als eine ferne Erinnerung und Sprach- und Werbeklischee war. Der von Goebbels ausgewählte Text stammt aus Rainald Goetz‘ Drama „Krieg“, und der Komponist wendet sich dabei gegen die Theaterkonvention, Goetz‘ „rhythmische Sprache“ naturalistisch umzusetzen: „Man glaubt den Figuren Charaktere geben zu müssen, um Gut und Böse psychologisch zu motivieren und damit doch nur uns vor diesem Auseinanderhalten zu schützen.“ In Gießen erlebt man nun, wie Lisa Charlotte Friedrich, die neben einer 12-Personen-Besetzung im hochgefahrenen Orchestergraben steht, zu aggressiv pulsierender Musik eine einzige endlose Wuttirade gegen irgendeine vorgestellte Revolution hält: „Der befreite Mensch? - Gefasel!“ Psychologisch erklärt wird hier in der Tat nichts, aber es überträgt sich aus der in mehrere musikalische Anläufe gegliederten Partitur ein Affekt-Spektrum zwischen Wut, Hass, Verachtung und Zynismus, dessen Energie man sich kaum verschließen kann. Zwei Momente der Irritation fließen in die Wahrnehmung ein: Sind es nicht typische Männer-Phrasen, die die energische junge Frau da abliefert? Und sind es heutzutage nicht gerade die Zyniker, die sich revolutionär geben?
Ein fließender Übergang, wie er für dieses Abend typisch ist, führt in die nächste Szene, die aus Goebbels‘ Live-Hörstück „Die Wiederholung“ von 1995 stammt und nach einer Novelle aus den Momentaufnahmen des französischen Schriftsteller Alain Robbe-Grillet (1922-2008) gestaltet ist. Die Bühne öffnet sich und atmet gehobene Salon-Atmosphäre. Links und rechts steht jeweils ein Flügel, stellenweise erklingt Musik von Frédéric Chopin und Franz Schubert, und hinten sitzt David Bennent mit dem Rücken zum Publikum an einem Schreibtisch mit Büchern. Er liest einen Text vor, in dem am Ende sein eigenes Verhalten beschrieben wird – so als wäre er bloß in einer Theaterprobe. Tatsächlich heißt das Stück Die Szene. Die ruhige Stimmung schärft Augen und Ohren; man achtet auf die kleinen Dinge: subtile Veränderungen in Musik, Sprache, Bühnenraum und Bewegung.
„Herakles 2“ für fünf Blechbläser, Schlagzeug und Sampler hat Goebbels 1992 für das Pariser Ensemble Intercontemporain komponiert. Der Text war eine Einlage zu Heiner Müllers Theaterstück „Zement“ von 1972. Er beschreibt den Weg des Herakles in den Kampf gegen die vielköpfige Hydra. Der mythische Held verwandelt sich dabei selbst immer mehr in eine Kampfmaschine und reflektiert diese Veränderungen in einem komplexen poetischen Text. Von dessen Bauweise, Syntax und Klangfarbe fühlte sich Heiner Goebbels angezogen. Die „Architektur“ des Textes habe die Struktur seiner rein instrumentalen Musik beeinflusst, schrieb der Komponist seinerzeit. 26 Jahre später lässt er dazu nun auch den Text verlesen. Für den Hörer-Zuschauer ist das Stück eine eher mühsame Angelegenheit. Ohne den Text vor Augen sind dessen Korrespondenzen zur Musik kaum zu erfassen; er ist zwar im Programmheft abgedruckt und enthält sogar als Bezeichnung für die Hydra den Titel des Abends („die Benennung von etwas nicht mehr Kenntlichem mit einem Namen aus einem alten Buch“), doch im Dunkel des Zuschauerraums kann man ihn nicht mitlesen. Um beim Bild von Beuys‘ Koyoten zu bleiben: Heiner Goebbels hatte lange Zeit, sich mit ihm anzufreunden, dem Publikum bleibt kaum mehr als eine Viertelstunde. Theaterleute unterschätzen oft dieses Missverhältnis.
Bildhafter, konkreter und lesbarer gerät die nächste Szene. Heiner Goebbels Arbeit „La Jalousie“ trägt den Untertitel Geräusche aus einem Roman von Alain Robbe-Grillet. Die 1957 entstandene Vorlage spielt in einem kolonialen Szenario: Der (weiße) Besitzer einer tropischen Bananen-Plantage ist besessen von der Vorstellung, seine Frau betrüge ihm mit dem Besitzer der Nachbarfarm, und interpretiert alle kleinen Ereignisse und Geräusche auf dem Hintergrund dieser „idee fixe“. Angeregt wurde die für das Frankfurter Jazzfestival 1991 entstandene Komposition für 16 Instrumentalisten durch Robbe-Grillets rückblickende Verwunderung darüber, „dass man so wenig über die Rolle des Hörens in diesem Roman gesprochen hat“. Diesmal lädt die szenische Konstellation eher zum genauen Hinhören ein. Der Titel der Szene spielt mit dem Doppelsinn des französischen Wortes „la jalousie“. Einerseits bedeutet es einen Sonnenschutz am Fenster, andererseits Eifersucht; beides trifft sich in der Haltung des misstrauischen Beobachters. Das Bühnenbild zeigt zeitweilig ausschnittsweise eine Abbildung der Plantage; und immer wieder werden symbolische jalousieartige Streifen auf einen durchsichtigen Vorgang projiziert, den Bennent als Ich-Erzähler nicht zu durchschreiten vermag. Zusätzlich werden Passagen aus dem Text an mobile Wände projiziert. Gerade hier hört man bei manchen Pointen der Inszenierung hie und da ein Lachen; ob ein erkennendes oder ein bloß irritiertes, ist selten genau auszumachen. Protest jedenfalls wird nicht laut; einige wenige Zuschauer gehen im Laufe des Abends rücksichtsvoll und leise.
„Surrogate“ stammt aus der 1994 entstandenen Orchestersuite Surrogate Cities, die wiederum auf den (durch einen Berlin-Aufenthalt inspirierten) Roman Surrogate City des irischen Autors Hugo Hamilton zurückgeht. Goebbels hat den Orchesterpart des atemlosen Sieben-Minuten-Stück anlässlich der Gießener Premiere für zwei Klaviere und Perkussion arrangiert. Das klingt stark nach Heavy Metal, und wir beobachten eine permanent pulsierende, rasante und virtuose Aufführung, während wir aus dem Lautsprecher in englischer Sprache David Bennents Stimme hören. Zunehmend argwöhnisch beobachtet der Erzähler eine junge Frau, die durch die Stadt rennt – bis hin zur Unterstellung, sie sei „arbeitslos“, „undeutsch“, „Surrogat“. Warum so misstrauisch, denkt man, und dann: Passt diese Haltung nicht genau so ins Heute, 23 Jahre später?
„Songs of Wars I have Seen“ (2007) Nr. 26 stammt aus der Oper „Landschaft mit entfernten Verwandten“ und bezieht sich hintergründig auf Texte der amerikanischen Schriftstellerin Gertrude Stein, andererseits auf einen Brief des französischen Barockmalers Nicolas Poissin über die ästhetischen Prinzipien seiner Bildkompositionen (aus den Lettres et Propos sur l‘Art), der teilweise von Lisa Charlotte Friedrich verlesen und phasenweise auf Säulen projiziert wird, welche dann wiederum auf der Bühne verschoben werden. Als Publikum hat man es jetzt also mit mehreren Koyoten aus ganz unterschiedlichen Räumen zu tun, die gleichzeitig gezähmt werden wollen. Zum Glück hat Heiner Goebbels aber für Gießen die Klangschalen-Musik seiner Komposition um ein langes, schönes, jazzartiges Trompetensolo ergänzt. Wie das Orchester im Halbrund auf der Bühne um den Solisten herum sitzt, ist ein sehr stimmungsvolles Bild. Freundschaft zu schließen fällt doch leichter, wenn der Koyote singt… Langer Beifall!