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Ein Orchester vor einen Leinwand mit experimentellen Daten.
Ein Orchester vor einen Leinwand mit experimentellen Daten.
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Data Science mit Charles Ives: Konzert des Saarländischen Staatsorchesters

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Es war ein außergewöhnlicher Anlass, zu dem Charles Ives’ Neue-Musik-Meilenstein „The unanswered question“ mit dem Saarländischen Staatsorchester gleich mehrfach in der Alten Feuerwache Saarbrücken erklang. Bei nur 70% Platzangebot wegen Corona war die „musikalische Data Science Versuchsanforderung“ am 8. November ausverkauft. Alle Anwesenden gaben ihre Daten ohne Beanstandungen preis. Das von Solo-Paukist Martin Hennecke durch einen Förderantrag beim Austauschprogramm „Kunst trifft Wissenschaft“ eingeleitete Projekt erweckte auch die Neugier überregionaler Fernsehsender.

Martin Hennecke, zweiter Solo-Paukist des Saarländischen Staatsorchesters, hatte sich erfolgreich für das Austauschprogramm „Kunst trifft Wissenschaft“ beworben, das diese Spielzeit erstmals von der Helmholtz Information & Data Science Academy, der Akademie für Theater und Digitalität des Theaters Dortmund, dem Deutschen Zentrum für Luft- und Raumfahrt sowie dem Max-Delbrück-Centrum für molekulare Medizin initiiert wurde. Es ging darum, mit digitalem Material „die Musik in die Zukunft zu boostern“. Von der Effizienz waren alle Beteiligten auf dem Konzert- und Diskussionspodium überzeugt. Thoralf Niendorf (Max-Delbrück-Zentrum) stellte eine Basiserkenntnis aus der Versuchsanordnung fest, aufgrund derer an der Synchronie von Herz und Arterien-Puls weitergeforscht werden könne. Aber man räumte auch ein, dass die visuelle Präsentation der graphischen Präsentation und der Daten-Erhebung, welche die musikalischen Veränderungen des Materials beeinflussten, noch ausbaufähig seien.

Die Anwesenden auf dem Podium zeigten sich fasziniert von den technischen Möglichkeiten, mit denen das Auditorium auf die physische Konzertform Einfluss nehmen könne. Bei der abschließenden, von Musikdramaturgin Anna Maria Jarosch moderierten Diskussion blieben Aspekte wie ästhetische Auswirkungen der Versuchsanordnung, das künstlerische Änderungspotenzial und vor allem die Frage nach der Relevanz des vorgegebenen Notenmaterials ausgeklammert. Bei der Generalprobe am Vormittag mit wenigen Hörern war man zu ganz anderen Ergebnissen gekommen bei den Datensammlungen im Publikum, welches da demzufolge auch auf die damit zusammenhängende musikalische Vortragsform einen andersartigen Einfluss genommen hatte.

Am Einlass erhielten die Besucher zur Selbsteinschätzung via App einige Thesen: „Ich bin hilfsbereit und selbstlos.“, „Entschlossen helfe ich Menschen im Unglücksfall“, „Ich bin einfühlsam, warmherzig“ und „Ich habe die Fähigkeit, über Eigenarten bzw. Fehler Anderer hinwegzusehen.“ Weitere Daten wurden aus Mimik, Gesichtern und Bewegungen durch Kameraaufzeichnungen der Reaktionen im Zuschauerraum und auf den Plätzen bereitliegende Body Watches erhoben.

Nach dem ersten Erklingen von „The unanswered question“ rezitierte der Schauspieler Raimund Widra die Ballade „The Sphinx“ von Ralph Waldo Emerson, durch die Ives zu seinem Tonpoem inspiriert wurde. Auch die messbaren Reaktionen des Auditoriums zum Zeitpunkt des Vortrags flossen in die Datenerhebung ein. Nach einem zweiten Vortrag von „The unanswered question“ begann die experimentelle Phase des Konzerts. Zum einen beeinflussten beim weiteren Vortrag die Daten und Algorithmen die Musiker, also deren Lautstärken sowie die Proportionen von Dynamik und Ausdruck. Auf der Leinwand wurden die Sprünge zwischen den erhobenen emotionalen Befindlichkeiten graphisch dargestellt. Es ging dabei nicht um ungefiltert gesammelte Affekte, sondern um deren prozentuale Anteile währende des Erklingens: Bei der dritten Wiederholung von „The unanswered question“ sprangen Punkte als Verbildlichung der eingesetzten Datensammlungen zwischen den emotionalen Kategorien „happy“, „surprise“, „neutral“, „disgust“, „fear“, „angry“ und „sad“. Proportionale Gemische aus diese Datensammlungen beeinflussten die Klänge.

Das Thema des Abends war zugleich der Inhalt: die Verbindung von Kultur und Wissenschaft. Die Versuchsanordnung wurde ein kreativer Akt für die beteiligten wissenschaftlichen Einrichtungen sowie eine empirische Erfahrung für die Mitwirkenden aus der Musik und der Kultur. Bei aller versuchten Präzision über die Versuchsanordnung und Auswertung spürte man vor allem die Freude der Konzeptpartner, einen Projektdraht zueinander gefunden zu haben. Mit den Ergebnissen dieses Projekts weiß man offenbar jetzt noch nicht so genau, wohin. Ganz wohl wird so manchem Musiker nicht sein bei dem Gedanken, dass die messbare Publikumsstimmung Einfluss nicht nur auf die Spiegelung der Stimmung, sondern auch gegen die Vortagsbezeichnungen ihrer Komponisten auf den Notentext nehmen könnte. Die Vision, dass Publikum und Klienten Einfluss auf den künstlerischen Vortrag nehmen, findet sich schon in Stanislaw Lems Roman „Transfer“ und wird auch in Yael Ronens und Dimitrij Schaads von Yuval Noah Harari inspiriertem Theaterstück „ (R)Evolution“ über Künstliche Intelligenz im Alltag des Jahres 2040 thematisiert. Wie würde ein Konzert klingen, in dem sich die Musik aus den Stimmungen des Auditoriums kreiert? Das wäre eine Revolution mit echten Daten, ist aber derzeit noch Zukunftsmusik.  

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