Das Theater Regensburg entwickelt sich zum Spezialhaus für Dystopisches: Nach der Uraufführung von Anton Lubchenkos eher halbgarer Samjatin-Adaption „Wir“ in der vergangenen und dem Wiederbelebungsversuch von Gottfried von Einems „Prozess“ zu Beginn dieser Spielzeit nun also „1984“.
Lorin Maazels 2005 uraufgeführte Oper nach Orwells wirkmächtigem Roman wurde von der Kritik ungnädig aufgenommen und kaum nachgespielt. Der Regensburger Intendant Sebastian Ritschel wollte dem perfekt zum Spielzeit-Motto „Wahrheiten“ passenden Werk eine neue Chance geben und bekam von Dietlinde Turban Maazel, der Witwe des Dirigenten und Komponisten, die Erlaubnis eine reduzierte Orchesterfassung davon zu erstellen. In dieser von Norbert Biermann besorgten Version erlebte die Oper nun, inszeniert von Ritschel selbst, ihre deutsche Erstaufführung. Leider war diese nicht dazu angetan, deren mäßigen Ruf aufzupolieren.
Das Problem des Stücks ist weniger die eindimensionale Umsetzung des Romans in ein Libretto mit grober Personenzeichnung (J.D. McClatchy und Thomas Meehan) als vielmehr Maazels musikalische Gestaltung. Über weite Strecken ertrinkt der Stoff in einer diffus modernistischen Klangsprache, die weder melodisch sprechend konturiert noch klangfarblich charakteristisch ist. Das Orchester tönt, zumal in dieser Fassung und in der von Dirigent Tom Woods dynamisch nicht genügend gezügelten Umsetzung durch das Philharmonische Orchester, meist ruppig und unraffiniert aus dem Graben.
Die eintönig düstere Grundstimmung, die bei dramatisch zugespitzten Momenten vorhersehbar durch blechgepanzerte Lautstärke intensiviert wird, mag dem Sujet angemessen sein, ermüdet aber nach kurzer Zeit. Bald stellt sich der paradoxe Effekt ein, dass die Sentenzen, die das Textbuch den Akteuren in den Mund legt, umso beliebiger wirken, je erregter sie über das Orchester hinweg in den Raum geschleudert werden. Ein weiteres Problem ist Maazels mangelndes Gespür für Timing und Dramaturgie. So dauern musikalisch gelungenere Szenen zu lang, ihr Effekt nutzt sich ab – so brillant auch Carlos Moreno Pelizari seine Eloge auf das „Neusprech“ oder Kirsten Labonte ihre Höchstton-Anleitung zur Kollektivgymnastik auch abliefern. Die Chance, die Figur des vermeintlich oppositionellen O’Brien mehrschichtig anzulegen, verpasst Maazel, indem dieser von Anfang an mit unheilvoll perkussiv gesprenkelter Musik als Schurke markiert wird.
Eine hintersinnig auf heutige Zustände anspielende Inszenierung hätte möglicherweise von den Defiziten des Stücks ablenken und die erschreckende Aktualität von Orwells Gedankenexperiment deutlich machen können. Regisseur Sebastian Ritschel hatte sich aber für ein in Bühnenbild (Kristopher Kempf) und Kostümen (Ritschel) zeitloses und in der Mehrzahl der Videos (Sven Stratmann) vom Entstehungsjahr des Romans her gedachtes Setting entschieden. So flimmerten die Slogans des Wahrheitsministeriums in schwarz-weiß über die an Metallgerüsten aufgehängten Bildschirme. Im Stil von Nachkriegswochenschauen wurden die zwischen den Szenen eingeschobenen Erfolgsmeldungen des überlebensgroß mit leeren Augen sein Volk überwachenden Big Brother auf eine bühnenfüllend herabgelassene Leinwand projiziert. Gruselfilm-Optik gab es für die Elektroschock-Folter im Ministerium für Liebe zu sehen; beklemmender waren die im gekippten Deckengestänge sich brechenden Livevideos bei der finalen, Winston Smith endgültig brechenden Qual im „Zimmer 101“.
Gesungen wurde am sehr positiv aufgenommenen Premierenabend durchweg hervorragend: Theodora Varga (Julia), Anthony Webb (O’Brien) und vor allem der in der Riesenrolle des Winston unermüdliche Jan Żądło gaben überzeugende Rollenporträts. Svitlana Slyvia (Prole-Woman) und Fabiana Locke (Café-Singer) sorgten mit Unterhaltungsmusik-Einsprengseln für etwas Farbe im musikalischen Daueranthrazit, ebenso der Opernchor und der Cantemus Chor in den halbwegs prägnanten Kollektivszenen.