Samstag an der Weichsel: Ruhe vor dem Tag der „Schicksalswahl“ in Polen. Kaum etwas im Stadtbild der Hauptstadt deutet auf den erbitterten Wahlkampf der letzten Monate und Wochen hin. Nur an den Ein- und Ausfallstraßen gelegentlich eine ordentliche Reklametafel, die darauf hinweist, wie sehr sich das Oppositionsbündnis gegen die regierende PiS („Recht und Gerechtigkeit“) für Stabilität, Sauberkeit und Ordnung einsetzt.

Symbolbild Kultur. Foto: Hufner
Dead End im Teatr Wielki – Die Eisenbahn-Oper „Ślepy Tor“ von Krzysztof Meyer in Warschau
Das Großaufgebot an Blaulichtern und die Straßensperrungen auf dem Weg zum Teatr Wielki verdanken sich der Ankündigung eines potentiellen Attentäters, auf dem Denkmal für die Opfer des Flugzeugabsturzes bei Smolensk eine Bombe zu zünden. 2010 war Staatspräsident Lech Kaczynski, der Bruder des heutigen Steuermanns der PiS-Regierung, zusammen mit zahlreichen weiteren Repräsentanten Polens in Russland zu Tode gekommen. Ob es sich bei der Denkmalsbombendrohung um eine gezielte Provokation zur Wahlbeeinflussung handelte oder um eine pseudoheroische Wahnsinnsaktion, lässt sich auch bei gründlichem Schnuppern in der Gerüchteküche nicht in Erfahrung bringen. Wohl aber kann der Wahnsinn überall lauern.
Er tut dies auch im Libretto „Ślepy Tor“ („Dead End“), das der seit langem überwiegend am Rand des Westerwalds lebende polnische Komponist Krzysztof Meyer als Ausgangsbasis für seine Partitur nahm. Die Komposition bekennt sich hörbar zum Mentor Dmitri Schostakowitsch. Meyer, der im August seinen 80. Geburtstag feierte, war dessen Assistent und Biograph. Vor vierzig Jahren wurde die von ihm fertiggestellte Oper „Die Spieler“, deren Ausarbeitung Schostakowitsch in den Vierziger Jahren abgebrochen hatte, in Wuppertal uraufgeführt. Und nun Krzysztof Meyers musikdramatisches Alterswerk – im großen Saal der Warschauer Nationaloper.
Eine existentialistische Eisenbahnoper
Der Librettist Antoni Libera ist Samuel Beckett-Experte und mithin Kenner von Sackgassen. Dieser Hintergrund prägte auch den Text, der sich um einen Samobójca, einen auf den letzten Augenblick wartenden Selbstmörder rankt. Dessen Lebens- und Seelennöten verleiht Stanislaw Kuflyuk mit seinem etwas derangierten Outfit durch die Kraft eines markanten Baritons Gehör im Geflecht der Stimmen. Dreimal kettet sich der Lebensmüde in Erwartung eines Zugs ans Gleis, wird aber jeweils rechtzeitig losgeschnitten und unter Vorhaltungen wieder zurück in menschliche Gesellschaft bugsiert. Dabei ist der Hinweis, er soll gefälligst die Öffentlichkeit nicht mit seinen privaten Problemen behelligen, das stärkste Argument.
Das Warten auf Godot kehrt in Alpos ein, der Bahnstation eines fiktiven Zwergfürstentums im Herzen Europas. Es sorgt für reichlich existentialistische Grundierung und mit seinen Nebenwirkungen und Restrisiken für heiteren Realismus. Diesem werden diskret surrealistische Momente beigemischt. Vor allem im mittleren der drei Akte kontrapunktiert eine komödiantische Komponente die größeren und kleineren Tragödien des Wartens und mitunter scheint es, als würden einige Portionen Lebenshilfe für das Stranden im Alltag der mobilen Gesellschaft verabreicht. Und über allem liegt mildes Abendlicht von Altersgelassenheit und Nostalgie.
Zuvorderst ist „Dead End“ eine Eisenbahn-Oper. Die Handlung konzentriert und dekonzentriert sich immer wieder in einer Schalter- und Wartehalle. Unterbrochen werden die Kammerspiel-Situationen dort von Ausblicken auf vier Gleise. Die ersten beiden enden an Prellböcken, das dritte sollte dem Durchgangsverkehr dienen. Das vierte führt in steiler Kurve nach oben und ins Nichts. Jagna Janicka hat die Bahnhofshalle mit nobelbrauner Täfelung ausgestattet und mit Buchenholzbänken, wie sie Schweizerischen Stationen im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ein spezifisch solides Heimataroma verliehen.
Ein dreiviertel Jahrhundert zurück
Die Bespielung der Abfahrtshalle verweist auf eine Zeit, in der Reisende nicht ausschließlich mit sich und ihren Smartphones beschäftigt waren. Die durch eine folgenreiche Unpünktlichkeit in ihren Erwartungen Enttäuschten beiderlei Geschlechts und unterschiedlicher Weltanschauungen treten unverzüglich miteinander in Kommunikation. Alle sind von der gleichen Unannehmlichkeit betroffen und reagieren doch sehr unterschiedlich.
Blechbläser-Signale exponieren ein der klassischen Tonalität enthobenes Intervall-Material für die Introduktion, dann trägt ein voller Orchestersatz die Konversationen. Zugleich sekundieren funkelnde und pointierende Soli der Hervorhebung hierarchischer Codes. Die Wartenden befragen sich respektvoll oder inszenieren sich exaltiert. Beschworen wird eine gute alte Zeit, in der Verspätungen und Zugausfälle die Ausnahme und nicht eine selbstverständlich hinzunehmende Regel waren, in der an kleineren Bahnhöfen noch Personal anzutreffen und ein Bahnhofsvorsteher persönlich ansprechbar war.
Irgendwie ist im Bahnhof Alpos die Zeit stehen geblieben und doch zugleich auch nicht. Elektronische Anzeigetafeln künden die Abfahrtszeiten und deren Verlagerungen in die Zukunft an. Ein Fahrkartenautomat hat den Schalterbeamten ersetzt, erweist sich jedoch nur als bedingt funktionstüchtig. Er druckt zwar das benötigte Ticket nicht, spuckt aber erfreulicherweise zu viel Wechselgeld aus. An die Stelle des Bahnhofs-Kiosks ist ein Kaltgetränkeautomat getreten, der das köstliche Nass aus der Dose jedoch erst freigibt, nachdem ihm die Scheibe eingetreten wurde.
Vieltöniges Warten, reich instrumentiert
Man wartet. Überwiegend vergeblich. Im ersten Akt sind es moderne urbane Menschen, weltgewandt, fortschrittsgläubig und weltverbesserungswillig, denen ein säumiger Zubringerzug zum Nachtexpress nach Paris einen Strich durch die Rechnungen macht bzw. einen Streich bei der Befriedigung der Luxusbedürfnisse spielt. Im zweiten Aufzug vertreiben sich erst drei heiter musik- und tanzinspirierte Nonnen die Zeit, dann betet ein von zwei sinistren Adjutanten begleiteter Ordensoberer und schließlich mit allen Anwesenden, dass sie ihren Anschluss bei der Anreise zu den „Heiligen Tagen“ in Rom nicht versäumen (damit solche Kritik klerikaler Entgleisung und Anmaßung aus dem Geist der 1950er Jahre theatral funktioniert, braucht es wohl ein Publikum wie das in der polnischen Hauptstadt). Im dritten Teil geht es für ein paar verdächtige Gestalten, Ärger bereitende „Asoziale“ oder womöglich Terroristen, um die letzte Verbindung Richtung Berlin.
Für soliden Zusammenhalt der wechselnden Personenkonstellationen sorgt Krysztof Szumański als Bahnhofsvorsteher. Er tut eben seine Pflicht, ist für das Nicht-Funktionieren des Systems, das er am Laufen halten soll, aber nicht verantwortlich zu machen. Szumański entwickelt sich zum überzeugenden Sympathieträger der Premiere. Eine dankbare Rolle begünstigt dies: Er muss nicht nur den Protest der auf die Wartefolterbank Gespannten abwiegeln, sondern hat allemal einen Seitenschneider zur Hand, um den Selbstmordkandidaten loszuschneiden und mit ihm dann, wohlklingend, Fragen der Gott- und Weltverlassenheit zu erörtern. Dass er mit einer Pistole bewaffnet ist, die er sich vom Selbstmörder abnehmen lässt, mag den surrealistischen Momenten der Handlung zugerechnet werden. Eine ironische Volte des Librettos sorgt dafür, dass der dreifache Retter am Ende zusammen mit dem dreimal vom Freitod Erretteten von einem heranbrausenden Zug erfasst wird.
Selbst dort, wo es dramatisch um Extremes geht, bleiben die klassisch gebändigten und nicht auf moderne Techniken zurückgreifenden Gesangspartien Krzysztof Meyers eingebettet in einen Orchestersatz, der „Zumutungen“ vermeidet, wiewohl er allenthalben auch nicht mit Reizdissonanzen geizt. Knappe Zitate – Mozart, Beethoven, Berlioz – erweisen sich als Referenzen an ein Publikum, das im Opernhaus in erster Linie gut unterhalten, nicht belehrt und nicht schmerzhaft herausgefordert sein will. Für eine diskrete Brechung sorgt schließlich ein Epilog als Theater auf dem Theater: Man sieht, wie sich die singenden Akteure abschminken – und hört, wie sie auch ein wenig über den Komponisten spotten. Der Darsteller des Selbstmörders verbucht den finalen Erfolg: Er erschießt sich.
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