Ist das denn möglich? 2.100 Besucher in einem Konzert mit Uraufführungen, mit Neuer Musik? Kein Problem beim Deutschen Evangelischen Kirchentag, der vom 3. bis 7. Juni in Stuttgart gastierte. Beim musikalischen Höhepunkt der religiösen Großveranstaltung im vollbesetzten Beethovensaal der Stuttgarter Liederhalle kooperierten Profi- und Laienchöre der Stadt in vier Werken zeitgenössischer Komponisten. Davon waren drei Uraufführungen.
Da ging’s so quirlig zu im Beethovensaal wie selten. Man spürte die echte Vorfreude. Angeregtes Geschnatter füllte den Raum, Rucksäcke und Wasserflaschen lagerten unter den Stühlen, es dominierte T-Shirt- und Sandalen-Outfit, und natürlich leuchteten überall die roten Schals mit dem Kirchentagsmotto „damit wir klug werden“. Der stammt aus dem düsteren Psalm 90, der davon spricht, dass wir alle sterblich sind wie ein Grashalm und unter dem Gericht Gottes stehen.
Das Motto spielte auch eine Rolle bei den Kompositionsaufträgen. Zumindest zwei der drei uraufgeführten Werke reflektierten die Kirchentagslosung im Kontext anderer biblischer Texte. Als da wäre Moritz Eggert, der einen fünfminütigen Appetithappen aus seiner sich offenbar noch in Arbeit befindlichen „Deutschen Messe“ für Knabenchor a cappella beisteuerte. Auftraggeber waren die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben, deren junge Männer und Knäblein unter der Leitung Rainer Johannes Homburgs dann für die angemessen zackige und sehr textverständliche Umsetzung sorgten. Eggert hatte eine Passage aus dem vierten Kapitel der Apokalypse gewählt, jene von den vier sechsflügeligen Tieren, die unaufhörlich zu Ehren Gottes singen. Eine recht amüsante, vielleicht sogar ironische Vertonung aus litaneiartig wiederholten und skandierten Halleluja-Rufen und teils rhythmisch gesprochenen, teils gesungenen, teils in Glissandi aufbrausenden Gegenstimmen, die mal in chaotische Strukturen überführt werden, mal sich in schönen Klängen zusammenfinden. Ebenso unterhaltsam und von den Hymnus-Chorknaben mit Lust und Leidenschaft aufgeführt, gerieten Günter Bergers „El Roi“-Impressionen, die durch genaue und doch verspielte tonmalerische Ausgestaltung der zugrunde liegenden Textsammlung besticht.
Zuvor hatte die Internationale Bachakademie Stuttgart ihr Auftragswerk „Die Geburt im Herzen“ für Soli und zwei Chöre hören lassen, eine Kantate aus dem Weihnachtszyklus „Das geistliche Jahr“, in der Jörg Herchet auf die Mitarbeit des Publikums baut. Ein guter Einfall: Kirchgängern darf man ja eine gediegene Mitsingfreudigkeit zutrauen. Und nachdem Akademie-Chef Hans-Christoph Rademann das Publikum zehn Minuten auf diese Aktion vorbereitet hatte, klappte das auch vorzüglich: In der Mitte des 20-minütigen Stücks intonierte die „Gemeinde“ eine gebetsartige Melodie aus drei Tönen auf die Worte „wunderbarer Tausch im Herzen“, ließ sie brav ausfransen und verstummen. Und auch der F-Dur-Akkord, in den die Kantate mündet, klang recht sauber. Aufgrund der schönen räumlichen Klangwirkung kam Freude auf, auch wenn das Stück ansonsten gelegentlich in sich zusammenbrach: Zwischen hektischem Glissando-Chaos, sanfter Einstimmigkeit, Klangflächen, Solistengesängen von der Empore, dem plötzlichen Einsatz von Klangschalen und Trommeln, wusste man mit dem ultraleisen Gemurmel und der atmenden Stille zwischendurch nicht so recht etwas anzufangen, auch wenn die Gächinger Kantorei und das Ensemble Auditiv Vokal ihre Sache wirklich gut machten.
Im 40-minütigen, umjubelten Beitrag des tschechischen Komponisten Martin Smolka, der seine Kantate „Sacred Vessel“ (Heiliges Gefäß) gleich für drei Chöre und Orchester geschrieben hat, spielte dagegen wieder das Kirchentagsmotto eine Rolle, das hier von jedem dunklen Schatten des Psalm 90 befreit ist. Es wird gleich im ersten der sieben Sätze zitiert. Sinnlich, ruhig, meditativ zirkulierten die kleinintervallisch eingefärbten vibrierenden Klänge zwischen den drei Chören, die auf der Bühne rechts, links und in der Mitte hinter dem Orchester, der Württembergischen Philharmonie Reutlingen, positioniert waren und von Kirchenkreiskantor Jörg-Hannes Hahn geleitet wurden. Ohnehin stellte Smolka, selbst bekennender Christ, als Motto seinem Werk Worte des alten Chinesen Tao Te Ching voran: „Die Welt ist ein heiliges Gefäß, nicht gemacht, um vom Menschen verändert zu werden. Wer daran etwas ändert, wird sie ruinieren; Machtgierige werden sie verlieren.“
In diesem Kontext erschienen die folgenden vertonten Psalm- und Jesaja-Verse in einem milden Licht – selbst jene, die vom wild aufbrausenden Meer sprechen oder alles sterbliche Fleisch mit dem Gras unter der Sichel des Schnitters vergleichen. In Smolkas Chormusik öffnen sich die Klänge, erzeugen feine Tonschichtungen ungeahnte räumliche Weiten. In „Sacred Vessel“ ließ er sich von der venezianischen Mehrchörigkeit und ihren Raum-Klang-Wirkungen inspirieren, die von der Gächinger Kantorei, dem Bachchor Stuttgart und dem Philharmonia Chor klangschön umgesetzt wurden: die schwebenden, kleinintervalligen Flächen, in die dissonante Akkorde wie Blitze einschlagen, Steigerungswellen und ihr Abebben, Hell-Dunkel-Schattierungen, minimalistisches Kreisen. Auch in der Orchesterbehandlung schöpft Smolka aus dem Vollen, lässt die Schaumkronen der Klangwellen durch E-Gitarre oder hysterische Orgelakkorde feurig aufblitzen, setzt Ewigkeitsglocken grell-zackige Bläsereinwürfe entgegen. Niemals knochentrockene Avantgarde, alles sehr saftig und sinnlich, kraft satt gemalter Bilder wie aufbrausende Wasserfluten oder Galoppaden rasender Reiter, was dann überraschend kontrastiert wird durch plötzliche Blockflötenseligkeit oder einem bescheiden einstimmigen Amen. Ja, Smolkas Chormusik lässt einen sich dem Himmel halt immer ein bisschen näher fühlen. Und das Kirchentagspublikum zeigte sich überglücklich.