Eine Konzertreise in Zeiten des Krieges? Das Sinfonieorchester Kiew gastiert in doppelter Funktion als künstlerischer und politischer Botschafter in sieben deutschen Konzerthäusern. Nicht trotz, sondern wegen des russischen Krieges. Gute Nachrichten aus der Ukraine sind derzeit kaum zu bekommen. Seit Putins Angriffskrieg auf das Land am 24. Februar 2022 kommen ausschließlich schreckliche Nachrichten und flüchtende Menschen aus der Ukraine.
Für einen Lichtblick – selbst der allerdings kriegsbedingt – hat nun das Sinfonieorchester Kiew gesorgt: Es startete als Botschafter seines Landes eine recht spontane Konzertreise durch Deutschland. Stationen der Tour sollten Dresden, Kiews Partnerstadt Leipzig sowie Berlin, Wiesbaden, Freiburg, Hannover und die Elbphiharmonie Hamburg sein. Als „kraftvolle Stimme der Ukraine“ sieht sich dieses Orchester. Da klingt durchaus Nationalstolz mit an, vor allem aber wohl Widerstandskraft gegen einen Aggressor. Nicht zuletzt auch das ausgeprägte Kulturbewusstsein eines souveränen Landes, von dem im Rest Europas viel zu wenig bekannt ist. Um dies zu ändern, ging nun diese „kraftvolle Stimme“ auf eine Deutschlandtour. Obwohl das Orchester bereits seit vierzig Jahren besteht, ist es hierzulande kaum ein Begriff. Ukrainischen Komponisten dürfte es da nicht besser gehen …
Bei aller Vorfreude auf die vorerst sieben Konzerte – die Geigerin Liza Zaitseva sprach aus, was wohl alle Orchestermitglieder gefühlt haben: „eine große Freude, dass ich dabei sein darf, aber natürlich auch einen großen Schmerz. Denn ich würde die Tournee viel lieber nicht wegen dieses Krieges machen. Umso mehr spüre ich die große Verantwortung, die Ukraine auch würdig zu präsentieren.“
Die junge Frau ist überzeugt, ihr Land brauche gerade jetzt eine starke Präsenz auch in Kunst und Kultur. Schon Lizas Eltern sind im Sinfonieorchester beschäftigt gewesen, und auch ihre Zwillingsschwester sieht die Musik als ihren beruflichen Lebensinhalt. Im Moment könne es aber nicht nur um musikalische und künstlerische Inhalte gehen, sondern müsse die politische Botschaft vornan stehen.
Luigi Gaggero, seit 2018 Chefdirigent des Orchesters Kiew, sieht das ähnlich: „Die ganze Tournee hat natürlich eine starke symbolische Bedeutung, aber auch eine Bedeutung des Geistes. Gerade in einer so tragischen Situation ist die Rolle von Kunst und der Musik entscheidend.“
Der Italiener ist europaweit für seine vielseitige Verbindung von Alter und Neuer Musik bekannt und hat seit Jahren auch als Zimbel- und Schlagzeugspieler von sich reden gemacht. Er betont noch einen anderen, ihm und dem Orchester sehr wichtigen Grund für diese Konzertreise: „Einer der Ausgangspunkte dieses Krieges ist, dass Putin meinte, die Ukraine würde grundsätzlich nicht existieren. Aber wenn man die Kunst, die Geschichte und eben auch die Musik kennt, sieht man doch eine sehr eigene Identität sowie viele Kontaktpunkte zum europäischen Repertoire, viel mehr, als man vielleicht denken könnte. Genau das versuchen wir auch in unserer Interpretation zu betonen.“
Auf dem Programm der Konzertreise durch sieben deutsche Städte stehen neben dem berühmten „Poème“ des Franzosen Ernest Chausson (1855–1899) Werke von Maxim Berezovsky (1745–1777), Myroslav Skoryk (1938–2020) und Borys Ljatoschynskyj (1894–1968). Ein Spektrum also, das von französischer Melancholie über einen Hauch Mozart-Nähe hin zu modernem Sentiment und bombastischem Orchesterklang führt. Liza Zaitseva sieht in dieser Tournee, für die das Sinfonieorchester ausgiebig in Warschau proben konnte, eine Chance, die bislang in Westeuropa nahezu unbekannten ukrainischen Komponisten einem breiteren Publikum vorzustellen. „Denn wir haben eine wirklich sehr reiche und schöne klassische musikalische Kultur. Ich glaube, diese Konzertreise wird das deutsche, das polnische und überhaupt das westeuropäische Kulturleben sehr bereichern.“
Die Geigerin absolviert derzeit ein Masterstudium in Nürnberg. Für sie und den italienischen Maestro ist ein geeintes, offenes Europa eine längst schon gelebte Selbstverständlichkeit gewesen, die Putins Krieg nun auf brutalste Weise in Frage stellt und zerstört. Luigi Gaggero betont: „Ich bin in Italien aufgewachsen, habe in Deutschland studiert und ich unterrichte in Frankreich. Diese Erfahrungen kann ich nach Kiew bringen. Aber zugleich, bei jeder Probe und jedem Konzert, lerne ich so viel von den Musikerinnen und Musikern dieses Orchesters, menschliche Qualitäten vor allem! Das ist ein so schönes Bild für Europa. Jedes Land bringt etwas, das die anderen Länder nicht haben. Aber das Haus, das wir zusammen aufbauen, ist das gleiche Haus.“
Ein im Moment allerdings wieder dermaßen gefährdetes Haus, wie es bis vor kurzem kaum denkbar gewesen ist. Daher machen sich Luigi Gaggero und Liza Zaitseva Gedanken um die weitere Zukunft. Der Chefdirigent kann sich nicht vorstellen, die nur mit ausdrücklicher Genehmigung des ukrainischen Ministeriums für Kultur und Informationspolitik sowie des Verteidigungsministeriums reisenden Musiker wieder in das bekämpfte Land zu schicken, bevor der Krieg nicht zu Ende ist.
Er hoffe auf die Möglichkeit einer Residenz für das Orchester oder aber zumindest auf eine Verlängerung der Tournee. Die Geigerin allerdings, die bis vor kurzem noch auf eine Stelle in einem deutschen Orchester gehofft hatte, will ihr Land stärken: „Die Ukraine braucht jetzt ganz viele junge Musiker mit Erfahrungen aus westlichen Orchestern. Vielleicht gehe ich nach meinem Studium zurück in die Ukraine, um eine feste Stelle in einem Kiewer Orchester zu bekommen. Denn ich will so viel wie möglich dazu beitragen, unsere Kultur zu stärken. Egal wie schwer die Umstände in meiner nun zerbombten Stadt mit den zerstörten Theatern sein wird. Aber ich werde ukrainische Kultur unterstützen.“
Das Auftaktkonzert dieser Tour im Dresdner Kulturpalast gelang fulminant. Stehende Ovationen des Publikums, darunter zahlreiche vor dem Krieg geflüchtete Menschen, haben gezeigt, dass die musikalische Botschaft angekommen ist.