Heitor Villa-Lobos, Enrique Granados, Isaac Albeniz – diese Namen hat man schon mal irgendwie gehört, auch wenn man mit ihnen als Teilnehmer am „normalen” Musikbetrieb nicht unbedingt viel anfangen kann. Aber Felix Guerrero, Carlos Fariñas oder Ignacio Cervantes Kavanagh? Dergleichen exotische Paradiesvögel flattern durch keinen Konzertsaal, nisten allenfalls in den CD-Nischen von Spezialisten oder hoffnungslosen Freaks. Sie alle brachte der kubanische Pianist Jorge Luis Prats aus seinem strahlenden Heimatland nach Husum, der in diesem August wieder eisig grauen Stadt am Meer.
Bei den dortigen „Raritäten der Klaviermusik” gab der nach Studien in Havanna bei Rudolf Kerer in Moskau und in Wien bei Paul Badura Skoda ausgebildete Künstler ein umjubeltes Recital, dessen Ovationen die denkmalgeschützten Holzdielen des gerade einmal 200 Personen fassenden Rittersaales im Schloss erzittern machten. Die „Suite havanaise” seines 2001 verstorbenen Freundes Guerrero hatte Prats selbst aus dem Nachlass zusammengestellt, eine leicht jazzig angeschrägte Tanzfolge, welche unter dem Einfluss der Guerrero-Lehrer George Enescu und Nadia Boulanger ein wienerisch-französisches Flair erhält, Schubert-Anklänge im Gewand des Son. Carlos Fariñas (1934-2002) empfing zwölftönige Weihen von Aaron Copland in Tanglewood, setzte seine Studien beim „kommunistischen Bruder” am Moskauer Tschaikowsky-Konservatorium fort, wurde Direktor des Teatro National in Havanna. Sein Stück „Gracia Alta“ breitet in hart akzentuierten, dissonant gesetzten Intervallen die chromatische Skala aus, unterfüttert sie aber alsbald mit den typischen Rollfiguren des „Tango nuevo“, eine eigenwillige Kombination avancierter und populärer Elemente.
Als Pionier der kubanischen Musik gilt Ignazio Cervantes Kavanagh. Durch Vermittlung des Piano-Tausendsassas Louis Moreau Gottschalk – der neben auf kreolischer Volksmusik basierenden Kompositionen unter anderem die Großtat beging, für sein Goldgräberpublikum in den USA den Marsch aus dem „Tannhäuser“ für vierzehn Klaviere zu arrangieren – kam er ans Pariser Conservatoire zu Charles Valentin Alkan. Interessante europäisch-lateinamerikanische Verschränkungen geben also auch seinen „Danzas Cubanas“ das Profil, deren spätromantische Klangwelt freche Synkopen in Ragtime-Nähe rücken. Diese unprätentiöse Musik wurde mit soviel augenzwinkerndem Charme und reichen Anschlagsnuancen geboten, dass das hingerissene Publikum nicht genug davon bekommen konnte.
Bei den Glitzerklängen des „kubanischen Gershwin“ Ernesto Lecuona geriet es dann vollends ins Schwelgen: „Siempre esta en mi corazón“ (Always in my Heart) heißt eine der berühmtesten Broadway-Melodien, die der kurzzeitige Ravel-Schüler in den 30er Jahren komponierte. Die Glissandi im Terz- Sext- und Oktavabstand allerdings waren die ureigene, spektakulär hingelegte Erfindung des spielfreudigen Pianisten.
„Schon in meiner Studienzeit war es mir einfach zu langweilig, immer dieselben Konzertprogramme zu hören“, erklärt der Berliner Pianist und Raritäten-Leiter Peter Froundjian die Gründung seines kleinen, aber feinen Festivals. Seine eigene exquisite Sammlung von Funden vorzugsweise aus dem „Goldenen Zeitalter“ der Klaviermusik – etwa die Jahre 1870 bis 1930 umfassend – gelangte schon gar nicht in die mit „Meisterwerken“ bestückten Musentempel. Mit einer handverlesenen befreundeten Pianisten-Riege reifte die Festival-Idee, für die sich in Berlin jedoch niemand erwärmen wollte.
Glücksfall Husum
Es war ein Glücksfall, im Husumer Schloss eine Spielstätte zu finden, die viel zum „Alleinstellungsmerkmal“ der „Raritäten“ beiträgt: Exklusivität und Intimität zugleich, die sich in den heftigen Diskussionen der Konzertbesucher spiegelt, die später noch beim gemeinsamen „Lokaltermin“ mit dem Pianisten fortgesetzt werden. Jeder kam hier mit jedem zusammen, die „Gemeinde“ zeigte sich zugleich offen und wuchs von Jahr zu Jahr, vernetzte sich zunehmend international bis in die USA und nach Japan. Entgegen der Star- und Eventkultur andernorts war in Husum immer das Programm der Star, überwiegend Vernachlässigtes und Vergessenes von Komponisten der „zweiten Reihe“, die sich in den anglo-amerikanischen Ländern, weniger von der verhängnisvollen Trennung in „E”- und „U”-Musik beeinträchtigt, übrigens größerer Bekanntheit erfreuen. An den Rändern Europas hört man offenbar anders als im Zentrum, und so haben britische oder skandinavische Musikszenen in Husum stets Konjunktur. Reservate virtuoser Musik finden sich an der amerikanischen Westküste, wohin so viele Künstler vor dem NS-Regime fliehen mussten. Die Vielfalt sowjetischer Musik, ob vormals unterdrückt oder protegiert, wird in Husum mit ungebrochener Begeisterung rezipiert, und selbst unbequem Neutönerisches stößt hier auf interessierte Neugier, so die „Concord Sonata“ von Charles Ives oder die seriell angelegte Klaviersonate von Jean Barraqué.
Klaviertitan Charles Valentin Alkan
Der Italiener Vincenzo Maltempo bot in diesem Jahr ein stringent durchkomponiertes Programm: rund um den französisch-jüdischen Klaviertitanen Charles Valentin Alkan, dessen 200. Geburtstag im vorigen Jahr im Schatten Wagners begangen wurde, gruppierten sich Werke seines Lehrers Pierre J. Zimmermann, seines Sohnes Elia Miriam Delaborde, von Kollegen und Konkurrenten. Ein klingendes Zeitdokument jüdischen Musiklebens tat sich hier auf, wie es sich damals wohl kaum so offen präsentiert haben dürfte – der Alkan-Freund Henri Ravina, shooting star der Pariser Pianistenszene, gehörte ebenso dazu wie Ferdinand Hiller, dessen Qualität aufgrund des sich nach 1870 verbreitenden deutschen Antisemitismus schon zu Lebzeiten nicht gewürdigt wurde, aber auch Julius Schulhoff, von Prag nach Paris und Berlin gelangter Schützling Chopins und Großonkel des in einem Internierungslager der Nazis umgekommenen freigeistigen Experimentators Erwin Schulhoff. All diese talentvollen Werke des späten 19. Jahrhunderts werden bis heute kaum stärker rezipiert als die „verdrängte Musik“ um die Theresienstädter Komponisten und die Emigranten der 1930er Jahre. Solche den Zeitläuften zum Opfer gefallene Musik der Bewertung durch den Hörer zugänglich zu machen, sie quasi neu zur Diskussion zu stellen ist das große Verdienst des Husumer Festivals.
Die „Raritäten” wären nicht sie selbst, wenn sie nicht auch immer wieder Neuland betreten würden: zwei Kammermusikabende lockerten die übliche Folge von acht Klavierabenden auf. Das Klaviertrio „Wanderer“ ermöglichte die Begegnung mit dem Trio von Gabriel Pierné, das sich im Entstehungsjahr 1920 zwar nicht auf den Höhen der damaligen freitonalen Avantgarde befand, doch ein komplexes Werk darstellt, das mit großem Erfindungsreichtum und satztechnischen Finessen einer elementaren Thematik immer neue Wendungen abgewinnt. Ruth Ziesak ließ in der „Chanson perpétuelle“ (1898) von Ernest Chausson ihren leichten Sopran mit Streichquartett und Klavier zum irisierenden Klangbild verschmelzen, gab diesem Werk des „Fin de siècle“, das sich durch modale Wendungen bereits vom „wagnérisme“ zu befreien sucht, fragilen Charme. Klanglich reizvoll auch Chaussons frühes Klaviertrio, das in (noch) brahmsischer Dichte imponierend den Spannungsbogen hält – insgesamt ergaben sich, in Kombination mit Gabriel Faurés Klaviertrio und seinem Liederzyklus „La Bonne Chanson“, interessante Streiflichter auf französische Kammermusik, bevor die Musikgeschichtsschreibung sie eigentlich wahrhaben will.
Den Zeitläuften zum Opfer gefallene Musik
Etüden von Unsuk Chin, Tänzerisches von Strawinsky, Conlon Nancarrow und Stefan Wolpe hatte Andrew Zolinsky im Gepäck; glasklar spielte der 23jährige Mark Viner eine „Grande Fantaisie“ von Sigismund Thalberg und die klanggewaltige „Java Suite“ von Leopold Godowsky. Eine A-Dur Sonate der Britin Caroline Reinagle, Klavierpionierin neben Clara Schumann oder Louise Farrenc, entfaltete bei Hiroaki Takenouchi gediegene Anmut, ebenso wie die geistreiche Sonate G-Dur des „Thüringer Mozart“ Johann Ludwig Böhner unter den sensiblen Händen Joseph Moogs. Was dieser junge Pianist dann aus Beethovens Fantasie op. 77 an Nuancen herausholte, war allerdings atemberaubend – wenn unter all den buntschillernden, skurrilen, experimentierfreudigen oder eigenbrötlerisch aus der Zeit gefallenen Raritäten einmal ein selten gespieltes Werk eines wirklich Großen auftaucht, wirkt das doch auch in Husum manchmal ganz schön ungerecht.