Wenn das München-Feuilleton einer wirklich großen süddeutschen Zeitung meint, „spielen statt reden“ zwischentiteln zu müssen – selbst wenn die Konzerte noch so toll waren – ist das zumindest leichtfertig. Denn wer spielt schon tolle Programme an tollen Orten ohne den davorliegenden tollen Diskurs? Den veranstaltete die Evangelische Stadtakademie München zusammen mit dem Kulturreferat der Landeshauptstadt München, dem Institut für Musikwissenschaft der Ludwig-Maximilians-Universität München und der Erlöserkirche München-Schwabing, der Villa Stuck, dem Muffatwerk, der Hochschule für Musik und Theater München, dem ensemble piano possibile, dem via-nova-chor München und mit Einbindung der „musica viva“-Reihe des Bayerischen Rundfunks. An immerhin tollen Orten. Und in immerhin tiefschürfenden Gesprächen für immerhin hochfliegende Pläne in höchstmöglicher Qualität. Und das zunächst in utopisch weit offener Gedankenlandschaft ohne Betretungsverbote (4. bis 6. Februar 2011).
Immerhin also: Wer als Soziologe aus Frankfurt am Main auf Reisen geht, der hat es nicht leicht. Flattert ihm doch blau und frühlingsgleich und schier unvermeidlich eine adornistische Girlande voraus. Romantisch gewunden, romantisierend in edles Blau gewandet. So geht es nicht zuletzt dem blitzgescheiten und wortgewandten Soziologen Tilman Allert aus eben diesem Frankfurt (am Main). Der vom Fundament einer unvergessen-unvergesslichen Frankfurter Schule ausgehend gerade damit kokettiert. Und der die Musik der jüngst zurückliegenden Jahrzehnte als eine darstellt, die sich alle Freiheiten genommen, jegliches Geräusch zum Material musikalischer Expansion umgedeutet hat.
Als wenig verwunderlich erwies sich der Terminus vom romantischen Ohr, durch das ja ein vorgeprägtes Hören, über Jahrhunderte in Gen-Programmen weiterentwickelt, den Jetzt-Zustand zementiert mit all seiner Versöhnungserwartung, mit all dem Erschütterungspotential, mit all der Kooperationsabsicht, die jeder, auch Neuester Musik, zugrunde läge.
Clytus Gottwald, wahres und wahrhaftiges Urgestein einer deutschen Musikavantgarde in einem Nachkriegsszenario, verwies auf die Paradigmenwechsel – und den Vorbild gebenden naturwissenschaftlichen Bereich – alles schön im abstrakten Segment der reinen Gedankenfülle. Da kam dann des denkenden Praktikers Manfred Eichers Statement wie eine Erlösung daher. Argumentiert er ja nicht aus des Elfenbeinturms glasperlenspielerischer Attitüde heraus. Sondern als Kontrabassist, als Partner der (auch) improvisierenden Musiker, als Tonmeister und (Er)Finder von ECM, jener legendären Münchner „Edition of Contemporary Music“. Was dem Gespräch Basis gab und Konkretes. Was Revolution und Gelassenheit in ein Boot setzte. Was den Weg von Perotinus bis Pärt assoziierte, von Albanien bis China. Zu Zeiten, als das praktisch unmöglich war. Der Erfolg von ECM? Das ist der „transkulturelle Weg von Alt und Neu, von U und E. Das ist kein Gegensatz. Das ist die Qualität in einer Musik. Das ist der Ton“. Die Frage nach den Kriterien von Qualität stellte sich. Doch mit der Antwort ging es quer durch den Urwald. Dem versuchte Frankfurts Soziologieprofessor wieder seine „Rahmung“ zu verpassen, nicht zuletzt auch mit dem Verweis, tunlichst die Ohren zu öffnen. Im Zeitalter des „anything goes“.
Eleonore Büning (FAZ) sah das als Befreiung. Und wünschte sich eine um gut 100 Jahre über das programmierte Maß hinaus verlängerte Lebenszeit, um all das erleben zu können, was im undurchdringlichen Dunkel vor uns liegt. Mit dem fast schon die Beliebigkeit zum Programm erhebenden „anything goes“ hatte Klaus Peter Richter (Süddeutsche Zeitung) so seine liebe Not. Da seine Urteilsfindungen vom vergleichenden Unterscheiden ausgehen – wie es dem Begriff „Kritik“ immanent ist. Vergleichen, Unterscheiden im Zeitalter der Innovationsneurose. Begreifen wir noch, was uns ergreift? Ergreift uns überhaupt noch etwas? Was soll rüberkommen aus all der Musik? Allert beklagt die allseits vorhandene Kriterienlosigkeit. Das Begriffliche von Freiheit wofür, wovon, wozu wird hier nicht vertieft – Kriterienlosigkeit als Programm? Die Partitur als kriteriengebender, doch ruhender Aggregatzustand. Die im Erklingen – wie von Thrasybulos Georgiades einstens exemplifiziert – erst lebt? Ratlosigkeit allerorten. Die aufzulösen auch den Moderatoren Jutta Höcht-Stöhr, Leiterin der Evangelischen Stadtakademie München, und dem LMU-Musikwissenschaftler Wolfgang Rathert für Neueres und Neuestes nicht so recht gelingen wollte.
Das Offene der offenen Frage Musik weiterhin offen zu halten und als Dauerverpflichtung im Bewusstsein zu halten, lässt sich als Resümee festhalten. Das Offene hält Neugier wach. Für den Sonntag hieß es dann sich einzustellen nach diesem Tag der Sinnstiftung, Popularisierung und Avantgarde auf das Terrain Zwischen Event und Musealisierung: Festivalkultur. Stuttgarts „Eclat“, die „Klangspuren“ aus dem tirolerischen Schwaz und Berlins „MaerzMusik“ waren präsent auf dem Podium via Christine Fischer, Maria-Luise Mayr und Matthias Osterwold, die alle ihre Konzepte vorstellten, vom Ereignishaften sprachen, vom Metropolitanen und von der kleinen Metropole im industriell gesättigten Inn-Tal. Wobei das Gebirglerische am authentischsten daher kam. Meret Forster (BR) plädierte für das radiophon-typische des Abbildens, sprach von der Live-Sendung, der medialen Begleitung. Wobei die volle Anarchie via Internet immer im Bewusstsein zu sein hat.
Theo Geißler, Herausgeber der nmz, brachte die Weltläufigkeit der Provinz ins Spiel, die mit „sounding D“ Orte ohne hauptstädtische Szene zum Blühen brachte. Das unvermeidliche und durchaus berechtigte Geraspele am öffentlich-rechtlichen System endete nach kurzem Disput mit der Erkenntnis, dass der Nachmittag keine Mediendiskussion sein und werden sollte. Denn Festivals sind nicht für die Medien gemacht, „sondern für die Leute“ (Osterwold). Die Aufführung ist zentral als Ereignis zu sehen. Der Musikbetrieb wurde als lebendiges Museum apostrophiert, als Hort von Qualität und Musikausstellung, als Ort der Diskurse, der Qualitätskriteriendiskussionen. Ohne dass deren Leitlinien auch nur ansatzweise erkennbar wären.
Das Publikum hat sich verändert, die Macher ebenso – und das alles vor dem und inmitten des allgegenwärtigen Kommunikationsmolochs Internet. Da spielt die Musik womöglich morgen und übermorgen. Genau da werden die neuen Sounds gesampelt aus Deep Purple mit Stockhausen, das ist die wirklich Neue Musik, kurzlebig und reizüberflutet. Die überholt Radio und Szenen. Hier etabliert sich auch die neue Unabhängigkeit von den behäbigen Feuilletons zwischen FAZ und WELT. Es geht um neue Bewertungskriterien, um eine breite Öffentlichkeit im Netz, um eine neue Ausbildung samt neuem Qualitätsbewusstsein. Wenn die traditionellen Medien das nicht schaffen, geht alles an ihnen vorbei. Denn das Publikum wählt selbstbewusst und selektiv aus. Hier gilt es, den Gehalt des legendären, eine Werbe-„Botschaft“ links hintenherum denkenden Graffitis im Geist eines urmünchnerischen Karl Valentin zu realisieren: Es gibt viel zu tun. Warten wir es ab...