Alban Bergs „Wozzeck“ aus dem Jahre 1925 ist ein musikalisches Meisterwerk des 20. Jahrhunderts. Es gehört zu der Handvoll von Opern, die davon profitieren, dass Text und die Musik hier fest untergehakt in eine Richtung marschieren. Auch wenn deren Ziel der Abgrund ist. Schon Georg Büchners (1813-1837) Stück aus dem Jahre 1837 über den Fall Franz Woyzeck ist ein genialer Wurf. Das Leiden der Kreatur scheint da in jedem Halbsatz auf. Und vom Blick in den „Abgrund Mensch“, von dem der Titelheld einmal spricht, wird nicht nur dem armen, gequälten Franz schwindlig.
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Kay Stiefermann (Wozzeck), Ania Vegry (Marie) und Jonathan Bischoff (Kind). Foto: © Claudia Heysel
Der Blick in den Abgrund Mensch – Alban Bergs „Wozzeck“ in Dessau
Bergs Komposition setzt da noch einen drauf. Er macht daraus die erste atonale und doch unmittelbar das Mit-Gefühl ansprechende Oper. Genau wegen dieser Mischung ist sie längst zu einem immer wieder neu befragten Prunkstück der Moderne avanciert. Stückvorlage und Musik sind hier auf Augenhöhe wie nur selten.
Auftakt zum Kurt-Weill-Fest
Der einhellige Premierenerfolg ist den Dessauern schon deshalb zu gönnen, weil der Premiere im Rahmen des gerade begonnenen 33. Kurt-Weill-Festes etwas mehr überregionale Aufmerksamkeit zuteilwird, als es gemeinhin der Fall ist (aber verdient wäre). Im Rahmen dieses Jahrgangs im Jahr seines 125. Geburtstages (am 2. März) wird es bis zum 16. März 72 große und kleinere Veranstaltungen mit über 800 Künstlern an 23 bekannten und neuen Spielstätten geben. Alles unter dem irgendwie auch aufmunternd klingenden Motto „Farben des Lebens“ und gespickt mit etlichen prominenten Künstlergästen. Zum Auftakt des Weill-Festes am Vorabend der Wozzeck-Premiere gab es im Anhaltischen Theater natürlich Musik des Namensgebers für das Dessauer Großevent schlechthin. Die Staatsoperette aus Dresden gastierte mit einer etwas abgerüsteten Version ihrer Produktion von Kurt Weills und Bertolt Brechts – wie sie es nannten – satirischem Ballett „Die Sieben Todsünden“. Mit den beiden Musicalprofis Sophie Berner und Jasmin Elberl als Anna I und Anna II an der Spitze des Ensembles und mit dem Orchester der Staatsoperette unter Leitung von Peter Christian Feigel. Nach der Pause begeisterte die 13-köpfige Sebastian Weber Dance Company mit ihrer packenden Stepptanz-Performance zu Musik von Jazzer Konrad Koselleck. Wenn das wie ein Brückenschlag in die Gegenwart wirkte, dann war der Beitrag des Theaters einer zu einem Zeitgenossen von Weill.
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Michael Tews (Doktor) und Kay Stiefermann (Wozzeck). Foto: © Claudia Heysel
Wozzeck
Wirklich falsch machen kann man mit dem „Wozzeck“ eigentlich nichts, aber man kann mit einer treffsicheren Regie und einer exzellenten musikalischen und vokalen Gestaltung einiges entschieden richtig machen.
In Dessau überzeugen die musikalische Qualität in Graben und auf der Bühne ebenso wie die Inszenierung von Christiane Iven. Auch ihrer (nach der Dessauer „Traviata“) erst zweiten Inszenierung merkt man den Respekt der jahrelang erfolgreichen Sängerin vor der Partitur und für ihr Personal an. Sie drängelt sich nicht deutungsambitioniert vor, sondern schafft zusammen mit Guido Petzold (Bühne) und Kristina Böcher (Kostüme) vor allem einen angemessenen, atmosphärisch schlüssigen Rahmen für die Enge der Welt, die für Wozzeck keinen Raum zum Leben oder gar zum Lieben lässt.
Auch Kay Stiefermanns Wozzeck will gewiss seine Frau und auch sein Kind lieben. Er kann es aber nicht. Mit einer nie auftrumpfenden Intensität macht er, ohne ihn auch nur einen Augenblick als pathologisches Opfer zu desavouieren, klar, dass er rettungslos in den Macht-Verhältnissen eingespannt ist. Sein durchsichtiger Anzug über der Unterwäsche entblößt ihn, ohne, dass er gleich ganz nackt ist. Sein kleiner Sohn ist (wie als ein deutlicher Fingerzeig in dessen Zukunft) in einem ähnlichen Look gekleidet. Der mit Uniformjacke über der langen Unterhose grotesk überzeichnete Hauptmann (großartig: Arnold Bezuyen) kann diesen Wozzeck aus bloßem Jux für dumm verkaufen. Oder er wird als Versuchskaninchen für absurde medizinische Experimente benutzt, wie von dem Doktor, für den Michael Tews um einen seriösen Mediziner-Habitus bemüht ist. Es wird aber auch ganz direkt auf ihm herumgetrampelt (bzw. sogar auf ihn uriniert), wie vor allem vom Tambourmajor, für den sich Torsten Kerl grandios stimmlich und körperlich aufplustert. Sein einziger, selbst erzwungen zurückhaltender Freund ist Andres (Christian Sturm); sein einziger Lichtblick seine Marie. Auch in dieser Rolle ist Ania Vegry ein vokales Ereignisse der Extraklasse! Sie lässt ihre Marie in vokaler Referenzqualität erstrahlen, und macht dabei zugleich aber auch ihre innere Zerrissenheit deutlich.
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Michael Tews (Doktor) und Kay Stiefermann (Wozzeck) im Hintergrund. Foto: © Claudia Heysel
In Dessau sind auch die kleineren Partien hervorragend besetzt. Das fängt bei Sophia Maeno als Margret an, und schließt Claudius Muth als 1. und Alexander Argirov als 2. Handwerksburschen genauso ein, wie David Ameln als Narr.
Wenn die zwei aufeinander zulaufenden, reliefartig strukturierten Wände, die Innenräume imaginieren, gen Schnürboden entschwinden, geben sie den Blick entweder auf eine gespenstische Waldlandschaft oder auf eine ebenso beklemmend düstere Backsteinfassade frei. Den Teich, in dem Marie endet, nachdem Wozzeck sie erstochen hat, erahnt man (vom Parkett aus nur) an den Reflexionen, die das Wasser an die Wände wirft. Der bunt kostümierte (von Sebastian Kennerknecht präzise einstudierte Opernchor schließt mit seinem Partieoutfit noch am ehesten unsere Gegenwart ein, verweist also aufs Überzeitliche.
Noch deprimierender als der Tod von Marie und Wozzeck ist die Perspektive für ihren Sohn. Der war hier stets anwesend, hat mitbekommen, wie seine Eltern gescheitert sind. Am Ende hält er das Mord-Messer in seiner Hand. Dass er und die anderen Kinder lauter Versatzstücke von Uniformen anhaben, verheißt nichts Gutes. Für Niemanden. So wird auch szenisch klar, was Markus L. Frank und die Anhaltische Philharmonie mit ihrem Changieren zwischen einer geradezu betörenden Expressivität und einem dunklen Nachhall der Spätromantik musikalisch so eindringlich gestaltet haben: die Verzweiflung über eine Welt ohne Ausweg. Und über den Abgrund, der der Mensch (auch) ist. Der verdiente Jubel des Premierenpublikums war für alle einhellig.
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