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Max-Emanuel Cencic in „Allesandro“. Foto: Martin Kaufhold
Max-Emanuel Cencic in „Allesandro“. Foto: Martin Kaufhold
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Der Counterfaktor – Die Händelfestspiele in Halle boten unter dem Motto „Händel und seine Interpreten“ eine Star-Parade der Countertenöre auf

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Heutzutage, da die Händelrenaissance längst von dem stabilen Boom der Barockmusik vereinnahmt wurde, den sie selbst mit angestoßen hat, und Verführung nur über Qualität erreicht wird, da lässt sich die Güte einschlägiger Festspiele durchaus am Counterfaktor messen. In Halle fehlten diesmal Bejun Mehta (war schon früher da) und Valer Sabadus (kommt im nächsten Jahr) und noch ein paar andere natürlich auch. Aber gefühlt, war der Rest diesmal an der Saale dabei. Unter ihrem aktuellen Motto „Händel und seine Interpreten“ boten die Festspiele von Herren mit der hohen Stimmlage nämlich auf, was Rang und Namen hat: in alphabetischer Reihenfolge ging das von Jake Arditti über Max Emanuel Cencic, Franco Fagioli, Markus Forster, Philippe Jaroussky, Vasily Khoroshev, Jeffrey Kim, Filippo Mineccia, Xavier Sabata und Benno Schachtner bis zu Lawrence Zazzo.

Dabei hatten der Franzose Jaroussky (als aktueller Händelpreisträger), der Florentiner Mineccia und der Argentinier Fagioli die Gelegenheit, mit dem Aplomb des Rampenstars in Solokonzerten zu glänzen. Im Falle von Altus Mineccia war sein Konzert „Il castrato del granduca: Gaetano Berenstadt“ nur die Zugabe zu seiner fulminanten Gestaltung der Titelpartie in der wiederentdeckten Händeloper „Lucio Cornelio Silla“ (siehe Besprechung Händeloper zwischen Psychokrimi und Zickenkrieg), dessen in jeder Hinsicht überzeugende Interpretation ihm wohl den Durchbruch in die Spitzengruppe der begehrten, so stimmstarken wie spielfreudigen Countertenöre bringen dürfte. An der Oper in Halle (die mit Axel Köhler von einem renommierten Altus der ersten Stunde geleitet wird) darf man sich auf die Reprisen des Händelschen Lucio Silla allein schon wegen Mineccia freuen. Sein junger amerikanischer Kollege Jeffry Kim war nicht nur an dessen Seite, sondern auch in der wiederaufgenommenen „Arminio“-Inszenierung des Vorjahres präsent. Dort hatte ihm Regisseur Stephen Lawless die schönste Bravourarie des Stückes mundgerecht inszeniert und obendrein den Namen seiner Rolle Sigismondo mit augenzwinkerndem britischen Humor als Siegmund-Parodie ausschmückt und ihn ein Wunderschwert aus dem Kulissenbaumstamm ziehen lassen. Dem Ausgang der zweiten, hier miterzählten Ebene des germanischen Heldenepos, die vom Kampf des Theaters gegen die Macht der Märkte und das Unverständnis der Politik berichtet, nützt das zwar nichts, dafür aber dem Theaterfeuer, zu dessen Lodern Jeffry Kim erheblich beiträgt. 

Max-Emanuel Cencic ist mit seiner eigenen Firma (mit der er auch „Alessandro“ produziert hat) im Moment dabei, sich selbst passende Rollen zu suchen und sich dabei ähnliche Verdienste um Ausgrabungen zu erwerben wie Cecilia Bartoli.

Dass der Händelpreis 2015 an Philippe Jaroussky ging und der das mit einem großen Konzert verband, passte in die Dramaturgie der Festspiele und in den angedeuteten Trend. Ohne protokollarische Verrenkungen, dafür mit charmanter französischer Lockerheit, hielt die Dirigentin des Abends, Nathalie Stutzmann, eine liebevoll persönliche Kurz-Laudatio. Nach der Preisverleihung bedankten sich Jaroussky und Stutzmann mit dem berühmten Sesto-Cornelia Duett „Son nata a lagrimar“ aus „Giulio Cesare“. Gemeinsam setzten sie damit ein ans Herz gehendes Ausrufezeichen hinter einen grandiosen Konzertabend. Bei dem hatten der sympathische Franzose mit dem Charisma eines großen Jungen und der Engelsstimme und die Dirigentin mit viel Einfühlungsvermögen und den zwanzig Musikern ihres Kammerorchesters Orfeo55 für pures Händelglück gesorgt. Mit seinem Programm setzte er nicht auf den todsicheren Jubel für ein Feuerwerk von Bravourarien, sondern auf ein stilistisch in sich stimmiges, für seine Kehle wie maßgeschneidertes Programm mit Arien von mythologischen Helden bei Händel. Von Apollo und Orfeo (aus der „Serenata Parnasso in festa") bis Ulisse (aus „Deidamea“). Nach der Pause dann folgten Aci (aus „Aci, Galatea e Polifemo“) und Teseso (aus „Ariana in Creta“). Alles in einem klugen Wechsel mit diversen Concerti grossi Sätzen zum Atemholen. Im vokalen Teil stellte Jaroussky scheinbar mühelos, technisch perfekt und mit Gespür unter Beweis, warum er zu den Weltbesten seiner Zunft gehört! Kann er doch einen Ton aus dem Nichts herbeizaubern, aufblühen und dann in eine Melodie gleiten, aber auch die Zeit fast völlig still stehen lassen, so dass man im Saal den Atem anhält. Natürlich ließ er es sich nicht nehmen, auch vorzuführen, dass er nicht nur den himmlischen Engelston wie kein zweiter beherrscht, sondern sich auch auf die irdische Koloraturverführung (wie beim Wutausbruch in zweiten Teil von „Perdere il bene amato“) versteht. Eine beim ersten Ton überraschende, dann sofort beglückende Pointe steuerte Dirigentin Nathalie Stutzmann bei (die bei den Festspielen auch ihr eigenes, bejubeltes Solokonzert hatte!), die eben auch eine der weltbesten Händel-Altistinnen ist, als sie von jetzt auf gleich als Polifemo zwischen die vorher verbreitete Schäferidylle fuhr.

Natürlich ist bei einem so hochkarätigen Festspiel-Angebot für das eigene Fazit auch ein Quäntchen Geschmacksache dabei: doch der Abend  mit Franco Fagioli in der Konzerthalle Ulrichskirche erfordert einen Superlativ! Diese schwindelerregenden Koloraturen auf einen langen Atem, diese technische Perfektion, dieser Kick in der Attacke, dieses vokale Sexappeal – all das ist derzeit einfach nicht zu überbieten. Nirgends. Mit seiner ersten Zugabe, dem berühmten jubilierenden Bravour-Mitreißer aus dem Ariodante, „Dopo Notte“ (diese Nächte!), brachte er das, was er zuvor beim Publikum entfesselt hatte, selbst auf den Händel-Fest-Spiel-Punkt!

Kurz zuvor hatte Fagioli in Wiesbaden bei den Maifestspielen als atemberaubender Cesare (unter anderem an der Seite seines Kollegen Cencic) in „Catone in Utica“ geglänzt (siehe Besprechung: Maifestspiele Wiesbaden von Stimmenfest mit Leonardo Vincis Oper „Il Catone in Utica“ gekrönt), die nach dem nur mit Countern besetzten „Artaserse“ die zweite Wiederentdeckung eines Werkes vom Händelzeitgenossen Leonardo Vinci (1690-1730) ist. In Halle triumphiert er jetzt mit dem Orchester Il pomo d’oro mit effektvoll zusammengestellten (und natürlich von einer CD sekundierten) Arien für Caffarelli (1710-1783). Seines Zeichens einer der exzentrischsten Kastratenstars seiner Zeit. Durchweg nach Texten von Pietro Metastasio gibt es Schmuckstücke von Nicola Antonio Porpora, Leonardo Vinci, Johann Adolf Hasse und Giovanni Battista Pergolesi, aber auch von unbekannteren wie Giuseppe Avitrano, Pasquale Cafaro oder Gennaro Manna. Da wechseln in den Saal geschleuderte Bravour-Artistik und berückend einschmeichelnde Melodie-Emotion einander ab. 

In den instrumentalen Pausen zeigen die 15 Musiker des vor drei Jahren gegründeten Ensembles unter Leitung von Riccardo Minasi ihr Format auch pur. Was ganz gut tut, denn wenn Fagioli das Podium kapert, dann hängen die begeisterten Fans nicht nur an seinen Lippen und staunen über jeden Sprung über mehrere Oktaven, über jeden schmückenden Triller, den langen Atem und das betörend schöne Timbre der Stimme. Dann kriegen sie auch eine Show über das Verfertigen von Tönen mit dem ganzen Körper und der Mimik, die keines Regisseurs bedarf. Und eine Ahnung davon, warum die Kastraten einst die angehimmelten vokalen Götterboten auf Erden waren. Einziger Makel des Abends: irgendwann ist auch dieses Arienglück zu Ende. Fagiolissimo! Vokal hat man sich damit in Halle die Latte für die die Händelfestspiele 2016, die unter dem Motto „Geschichte- Mythos – Aufklärung“ einen französischen Akzent haben werden, jedenfalls ziemlich hoch gelegt!

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