Graz ist Kulturhauptstadt Europas. Das Zentrum des Steirischen Herbstes, von dem schon viele Impulse für die Kunstszene des letzten Vierteljahrhunderts ausgingen, lässt sich nicht lumpen. Mit der Helmut-List-Halle hat man auch einen neuen und aufwändigen künstlerischen Veranstaltungsort errichtet. Sie liegt hinter dem Bahnhof in der denkbar hässlichsten Gegend der Stadt. Eine Terra incognita aus Industriehallen und Gegenständen, die sich dem Recycling sperren. So präsentiert sich die Halle auch im kühnen, dabei höchst geschmackvollen Fabrikgebäudelook. Sie wirkt wie eine überdimensionale Streichholzschachtel aus Metall und Glas, aus der auf beiden Seiten Schubfächer zur Hälfte herausstehen. Helmut List ist Grazer Ingenieur (Motorenentwicklung, Elektronik), ohne den die Autoindustrie heute um einiges schlapper dastehen würde. Mit der Halle hat er sich schon zu Lebzeiten ein imposantes, multifunktionales und akustisch superbes Denkmal gesetzt.
Dort wurde nun die Kulturhauptstadt mit Beat Furrers Musiktheater „Begehren“ eröffnet. Das Stück hat schon eine eigene Leidensgeschichte hinter sich. Ursprünglich war es für den Steirischen Herbst 2001 konzipiert, die Grazer Oper aber verweigerte die szenische Umsetzung. Die konzertante Aufführung war verheißungsvoll, aber ernsthaft begriffenes Musiktheater ohne Theater lässt auch die Musik verblassen. So hatte Furrer denn auch die erste Szene zu einem Chor-Orchesterwerk umgearbeitet, das ebenfalls 2001 in Donaueschingen erklang. Jetzt wurde mit einem Graz-typischen Spagatschritt alles nachgeholt. Der Steirische Herbst 2002 wurde übers Jahr hinaus verlängert, sein Ende markierte die Eröffnung des Kulturhauptstadt-Jahres. An diesen Schnittpunkt wurde „Begehren“ platziert (und Peter Oswald, Leiter des „Herbstes“, gebärdete sich vor der endgültigen Uraufführung denn auch mit dem Überschwang eines Boxring-Moderators).
Während viele (auch jüngere) Komponisten heute Opern komponieren, als hätte die Gattung überhaupt noch keine Überlagerungs-Dellen abbekommen, versuchen verantwortungsvol-
ler Denkende Musiktheater neu zu formieren. Selbstverständlich kann nicht ein einziges auch noch so geniales Werk diesen notwendigen Umschwung leisten. „Begehren“ des in der Schweiz geborenen, längst aber in Österreich beheimateten Beat Furrer wird sich ohne Zweifel in die Reihe radikal innovativer Musiktheateransätze integrieren.
Zugrunde liegt der Orpheus-Stoff. Sichtweisen von Ovid, Vergil, Hermann Broch, Cesare Pavese und Günter Eich wurden in Textauszügen kompiliert. Freilich nicht, um Handlungsstränge zu rekonstruieren, sondern um Zustände des suchenden Verlangens (und des Vergeblichen daran) bildhaft in zehn Szenen aufscheinen zu lassen. Altgriechisches Theater, auch in der Konfrontation von Individuum und Chor, steht als Modell hinter dem Entwurf Furrers, vielleicht auch das japanische No-Theater. Seinsgründe, menschliche Befindlichkeiten werden statisch postiert und mit existenzphilosophischen Randvermerken unterfüttert. Die Musik wagt sich stets in die Grenzwelten von Sprache und Gesang, beugt sich hinunter zum nackten Atem oder hinein in die Stille. Sie ist konzessionslos herb, lässt den Hörer allein in seiner wahrnehmenden Betrachtung. Nirgendwo gibt die Musik nach, öffnet sich, sucht Wärme zum Publikum. Und gerade in dieser Ehrlichkeit liegt ihre Stärke. Furrer wagt viel – und gewinnt. Wer an seinen frühen Arbeiten der 80er Jahre ein Übermaß an konstruktiver Starre bemängeln mochte, der muss feststellen, dass Furrers Musiksprache nun (ohne Aufweichung des Strukturellen) ein geradezu beklemmendes Maß an körperlicher Intensität hinzugewonnen hat. Vielleicht wäre karge Tiefe als Charakterisierung angemessen. Der Sänger Orpheus („Er“) ist auf Sprechen und Atmen reduziert, gleichsam seiner ureigensten Fähigkeiten beschnitten, Euridice („Sie“) entgegnet mit ungreifbaren Koloraturen (hervorragend Johann Leutgeb und Petra Hoffmann). „Deine Einsamkeit verdoppelt die meine“, sagt sie am Ende der neunten Szene und bringt damit die Stoßrichtung des ganzen Werks auf den Punkt. Der Chor (das Vokalensemble NOVA) bringt intensive Schattenklänge hervor, fahl begleitend und bedrückend unterminierend zugleich. Und immer enger schließt sich die Schraube bis zum sich zu einer negativen Apotheose verkriechenden Schluss.
Eine ins Reale zerrende Bebilderung hätte dieses filigrane Netzwerk erschlagen. Reinhild Hoffmanns Inszenierung vermied dies auf glückliche Weise. Sie kommt vom Tanz her, vom Bewegungstheater. Und so wurde ein körperlicher Kontrapunkt entworfen, mit Gesten, die ins Leere greifen, die sich wie Kugelgestalten winden und gerade durch die feinst konstruierte Bewegungspartitur des Sinnlosen zum Wesen vordringen. Es sind kahle Gestalten mit statischen Gesichtern, immer wieder, als Pendant zur Musik, an der Grenze von Starre und Bewegung. Der abstrakte Bühnenbau der Irakerin Zaha Hadid – ein von unten beleuchtetes Plexiglas-Gelände, das von Hebemaschinen zu Brücken oder Steilwänden aufgeworfen wird, rundete die theatrale Einheit: Eine Einheit, die nicht auf Verdoppelung setzte, sondern in verschiedenen Strängen an einer gemeinsamen Idee baute. So definiert sich Musiktheater neu und die auf körperliche Aktion abgestellte Musik hätte gewiss ohne diese asketische Front des Visuellen viel an Wirkung eingebüßt.
Beat Furrer selbst leitete das (auf 15 Spieler verstärkte und hautnah agierende) ensemble recherche. Dass der Applaus nicht in Trubel ausartete, hatte schon die Sinnstruktur des Stücks verboten. Aber er machte klar, dass jeder dankbar etwas mit auf den Weg bekommen hatte. Graz kann ein Jahr lang so weiter machen. Der zum Teil selbstverordnete Charakter eines heim-lichen Kulturzentrums in Europa würde Bestätigung erfahren.