„Denn eine Oper zu schreiben, die die Musik als Aufputz und Beiwerk erfordert, ihr nichts selbständiges mehr zu tun übrig läßt, würde mir widerstreben; und ein Sujet zu vertonen, in welchem der Grundgedanke nicht ein absolut die Musik erheischender – nein – die Musik selber ist, erst recht. So schrieb ich den ‚Fernen Klang’…“
Es ist, als habe Peter Ruzicka diese Passage aus Franz Schrekers bis 1987 unveröffentlichter Vorbemerkung zu seiner Oper „Das Spielwerk und die Prinzessin“ im Auge gehabt, als er die 13. Ausgabe der Münchener Biennale für neues Musiktheater unter das auf Schrekers vor 100 Jahren uraufgeführte Oper anspielende Motto „Der ferne Klang“ stellte. Der vor allem ob eines amazonischen Reinfalls bei der vorherigen Ausgabe des Festivals mitunter arg gerupfte künstlerische Leiter hatte bei der abschließenden Podiumsdiskussion in der Bayerischen Akademie der Schönen Künste kurzerhand die Moderation abgegeben, um diskutierend mitmischen zu können. Ihm war vor allem daran gelegen, jenen Einwand gegen seine dramaturgische Linie der vergangenen Jahre zu entkräften, den er im Künstlergespräch vor der Uraufführung von Arnulf Herrmanns „Wasser“ süffisant als „süddeutsche These“ klassifiziert hatte und die er prägnanter auf den Punkt brachte als SZ-Kritiker Reinhard Brembeck selbst, der die Diskussion mit einem Impulsreferat eröffnete: Je autonomer eine Musik, so Brembeck sinngemäß, desto weniger theatertauglich ist sie.
Unter anderem anhand von Schlüsselwerken des 20. Jahrhunderts wie Bergs „Wozzeck“ oder Zimmermanns „Soldaten“ hatten Ruzicka und die ihm weitgehend sekundierenden Gesprächspartner Eleonore Büning, Klaus Zehelein und Gerhard R. Koch bei dieser Entkräftung leichtes Spiel, während Arnulf Herrmann feststellte, die diskutierten Kriterien spielten für ihn keine Rolle. Dies lenkte den Blick auf wohltuende Weise wieder auf die Werke selbst und auf die für eine Beurteilung für Ruzickas künstlerische Bilanz entscheidende Frage zurück: die Frage nämlich, ob seine Suche nach einem dritten Weg abseits einer restaurativ erzählenden Opernkulinarik auf der einen und eines abstrakten Hörtheaters auf der anderen Seite über die letzten Jahre hinweg erfolgreich gewesen ist. Auf der Habenseite wollte Ruzicka diesmal vor allem Arnulf Herrmanns „Wasser“ verbucht sehen und wusste dabei weite Teile des Publikums und der Musikkritik hinter sich.
Dellen im Soundtrack
Ob diese Zustimmung auch einer weniger handfest auf filmnahe Atmosphäre setzenden Inszenierung gegolten hätte – Florentine Klepper schien vor allem auf David Lynch anzuspielen –, bleibt allerdings die Frage. Denn das von Herrmann und seinem Textdichter Nico Bleutge entworfene Szenario ist äußerlich durchaus karg: Ein Mann namens Robert erwacht in einem Hotelzimmer, um sich kurz darauf in einem nicht minder traumverlorenen Szenario wiederzufinden. In der Lobby trifft er auf vier Wiedergänger und auf eine Frau, mit der ihn eine vage angedeutete Beziehung verbindet.
So wenig äußere Handlung sich abspielt, so wenig Text zu hören ist, so prägnant charakterisiert Komponist Arnulf Herrmann allerdings die 13 Stationen dieses somnambulen Bewusstseinsstroms. Spätestens als ein Mitglied der vierköpfigen „Ich-Truppe“ (O-Ton Florentine Klepper) eine Vinylscheibe auflegt und eine Tenorarie dazu anstimmt, gerät man in den Sog seiner immer wieder spriralartig wuchernden Sequenzbildungen. Denn die LP läuft nicht rund; jaulend verzerrt sie das aufgezeichnete Material zu einem deformierten Klangband, in dessen Dellen sich nach und nach die live gespielte Musik festsetzt.
Weitere Elemente, mit denen Herrmann einzelnen Szenen eine charakteristische Färbung verleiht, sind eine sich anschließende Tanzmusik, bei der die eiernde Platte nunmehr in Gestalt eines hinkenden Schlagzeugrhythmus weiterwirkt, die abgrundtiefen, dabei aber erstaunlich distinkt bleibenden Töne des Kontraforte, die mit Wasser gefüllten Klangschalen, deren dumpfes Flirren von der Live-Elektronik in den Raum hinein vergrößert wird, und vier von der Decke senkrecht nach unten gespannte riesenhafte Klaviersaiten. Als überlebensgroße Tropfen landen die hiermit erzeugten Töne im Klangtümpel und lösen konzentrische Kreise aus. Als übergreifendes musikalisches Gestaltungsmerkmal ist neben diesen wiederkehrenden, vom Ensemble Modern unter Hartmut Keil bravourös servierten Konstellationen der Umgang mit Vierteltönen von entscheidender Bedeutung, ein Prinzip, dem auch die Gesangslinien unterworfen sind. Die durchaus kantable Stimmführung gerät so ebenfalls in den für die ganze Partitur kennzeichnenden Sog des Uneigentlichen. Überragendes leistete hierbei das Ensemble mit Boris Grappe, Sarah Maria Sun und den Mitgliedern der Schola Heidelberg.
So sehr Herrmanns Disposition charakteristischer Klangstationen beeindruckte, so diffus blieb dennoch deren emotionale und damit theatral wirksame Anbindung an die Hauptfiguren. Die von der Regisseurin und vom Komponisten gleichermaßen angestachelte Neugierde auf eine überraschende Wendung, einen vielleicht auch ironischen, wiederum filmisch gedachten „Twist“, blieb somit ungestillt. Gleichwohl fiel die Zustimmung recht einhellig aus. Als Beispiel für den Holzweg, auf dem Ruzicka sich befinde, war dagegen recht schnell Sarah Nemtsovs „L’Absence“ ausgemacht. Vermessen sei ihr Versuch gewesen, anhand von Texten aus Edmond Jabès’ Zyklus von Nicht-Romanen „Livre des questions“ eine durch den Holocaust entzweite Liebe zu thematisieren. Bei aller berechtigter Kritik an der Statuarik und Textlastigkeit des Entwurfs und an dem trotz des ingeniösen Bühnenbilds recht hilflosen Versuch Jasmin Solfagharis, daraus szenische Handlung zu generieren, blieben die Qualitäten von Nemtsovs Komposition indes unterbelichtet – Qualitäten, die durchaus das Potenzial zu theatraler Wirkung hätten.
Vor und hinter der Klangmauer
Lange zögert sie den Moment heraus, bis die weibliche Hauptfigur Sarah singt, bis damit eine Stimme erklingt, die nicht wie andere in den Szenen zuvor Fremdkörper bleibt oder vom Orchester auch übertönt, ausgelöscht wird. Genau an der Mittelachse des Werkes legt sich Tehila Nini Goldsteins Sopran über den Instrumentalklang, wird dessen integraler Bestandteil, geht in diesem völlig auf.
Während für alle anderen das Orchester eine Klangmauer bildet, die sie vom Publikum trennt, begibt Sarah sich in diesen Klang ganz hinein, um ihn schließlich in dem Moment schreiend zu durchbrechen, als ihr vom Verlust der Eltern ausgelöster Wahn in Erkenntnis umschlägt. So zwingend der Komponistin dieser weite musikalische Bogen gelingt, so genau formt sie immer wieder auch die Mikrostruktur. Nicht selten eröffnet sie eine Szene mit einem in der Instrumentierung genau ausbalancierten, heftigen Schlag, der das klangliche Material des Folgenden in sich zu tragen scheint. Das anschließende Auffalten dieser Einzelereignisse in die Horizontale ist dann freilich nicht immer in gleichem Maße über die Länge einer Szene tragfähig, zumal das Verhältnis zu den Singstimmen, wie angedeutet, durchgehend ein prekäres ist.
Ein schönes Zukunftssignal war die kompetente Beteiligung des Bundesjugendorchesters an dieser Uraufführung. Dirigent Rüdiger Bohn hatte die knapp 30 jungen Musikerinnen und Musikern zusammen mit weiteren Dozenten mit erstaunlichem Erfolg in die ungewohnten Spielweisen, die vertrackte Rhythmik und die fein austarierten Balancen eingeführt. Die mangelnde Selbstverständlichkeit schien in eine ganz eigene Form der Intensität umzuschlagen.
Auch der Stoff von Eunyoung Kims erster Oper ist düster, doch zusammen mit ihrer Librettistin Yona Kim, die bei der Uraufführung auch Regie führte, hat die koreanische Komponistin daraus ein gut einstündiges, zwischen Absurdität und Horror, Soap und Tiefsinn eigenwillig, wenn auch nicht immer überzeugend changierendes Stück gebaut. Zusätzliche verfremdet wird die Handlung – ein von Mutter und Großmutter verhätschelter Halbwüchsiger wird zum mutmaßlichen Sexualmörder – durch die bewusste Zurschaustellung der einzelnen Musiktheaterelemente.
Mal steht lange Zeit der gesprochene oder nur andeutungsweise musikalisch deklamierte Text im Fokus, sporadisch grundiert vom hinter der Bühne platzierten 20-köpfigen Orchester; mal dominiert die szenische Aktion; dann schiebt sich aber auch, gegen Ende verstärkt, die Musik in den Vordergrund, die in Form zellophanierter oder zersägter Instrumente auch Bühnenrequisit ist: Eunyoung Kim setzt den instrumentalen Apparat stark perkussiv ein, häufig im Sinne rhythmischer, von Alltagsgeräuschen inspirierter Ostinati. Zusammen mit den nicht durchweg opernhaft präsenten Stimmen ergibt das einen musikalisch insgesamt fast zu stark zurückgenommenen, mitunter zur Schauspielmusik tendierenden Gestus, was andererseits aber die wenigen, alle Parameter dramatisch zusammenführenden Momente in der Wirkung entsprechend verstärkt. Von gespenstischer Komik ist die Besetzung der Großmutter mit einem Countertenor (bravourös: Daniel Gloger). Unter der sicheren Leitung Sebastian Beckedorfs zeigte das Staatsorchester Braunschweig (dort wird die Produktion ab 13. Juni zu sehen sein) seine Kompetenz im zeitgenössischen Fach.
Virtuelle Opernwelten
Ein besonderer Fokus der diesjährigen Biennale lag auf der Einbeziehung der Münchener Neue-Musik-Szene. Zum einen hatte Peter Ruzicka bei heimischen Tonsetzern acht „Nuclei“ in Auftrag gegeben, kurze Stücke, die – den Aufführungen der drei Hauptwerke jeweils einzeln vorangestellt – als mögliche Keimzellen zukünftiger Musiktheaterprojekte Perspektiven aufzeigen sollten (zur Gesamtaufführung des Zyklus siehe unseren Bericht auf www.nmz.de).
Zum anderen steuerten Helga Pogatschar und Alexander Strauch zwei Stücke bei, die sich im weitesten Sinne mit dem Verlust von Identität in Zeiten virtueller Netzwelten befassten. „mystery – mach dir kein bild“ hatte Helga Pogatschar ihre „Video-Oper“ überschrieben und knüpfte damit an ihr vor fünf Jahren uraufgeführtes, ähnlich gelagertes Stück „peep!“ an. In „mystery“ bildeten die Nonsense-Web-Schnipsel, die sich Sopranistin Monika Lichtenegger und Bariton Christian Hilz stimmvirtuos gegenseitig um die Ohren hauten und die dann von deren digitalen Duplikaten auf der Leinwand multipliziert wurden, einen amüsant-hintersinnigen Kommentar zu jenen von Suchalgorithmen trefflich auswertbaren Persönlichkeits-Profilen, die das digitale Netz bevölkern. Dabei blieb es dann aber auch, während der Rekurs auf das platonische Höhlengleichnis, das Pogatschar und der konzeptionell mitbeteiligte Michael Bischoff ins 21. Jahrhundert zu übersetzen beanspruchten, ambitionierte Behauptung blieb. Auch die musikalische Ausgestaltung der als Kernthema des modernen Menschen nur vage umrissenen Unschärfe-Erfahrung lief ins Leere. Das als Fremdkörper ohne dramaturgische Anbindung an den Rest eingelassene 20-minütige Streichquartett blieb in seinen repetitiven Strukturen, aus denen ab und zu intensivere Einzelstimmen hervortraten, vordergründig.
Einen konkreten Fall netzbedingter Identitätsverwechslung nahm Alexander Strauch zum Ausgangspunkt für sein zur szenischen Installation tendierendes Stück „NEDA – der Ruf, die Stimme“. Weil ihr Facebook-Profilfoto fälschlich als Bild der während der „Grünen Revolution“ erschossenen Neda Agha-Soltan in Umlauf kam, musste Neda Soltani (soeben hat sie ein Buch darüber veröffentlicht) vor dem iranischen Geheimdienst fliehen. Im Münchener i-camp stehen nun zwei Neda-Darstellerinen in einem verhüllten Kubus und besingen ihr durch Zufall miteinander verwobenes Schicksal. Nur Schemen von ihnen sind dabei – wenn sie nicht gerade durch das um den Kubus lose sich gruppierende Publikum bewegen – zu sehen und auch die beiden Instrumentalisten an elektronisch mal mehr, mal weniger verfremdetem Celli und Zithern bleiben hinter einer Plastikfolie verborgen. Dabei geht eine eigentümliche Wirkung von Strauchs Behandlung der beiden, von Julia von Landsberg und Alexandra Steiner phänomenal gesungenen Stimmen aus. Zwischen Fremdheit und Nähe bewegen sich auch die instrumentalen Beimischungen, in denen persische Assoziationen eine zerbrechliche, intime Aura schaffen, bis sie ins Unkenntliche verzerrt werden. Als Projektionsfläche nahm Alexander Strauch die quasi wörtliche Übersetzung von Fotos in Musik hinein: Ein schlichtes Computerprogramm generierte aus den Bildern der beiden Frauen beinahe identisches Material, vorab festgehaltene Gesichter aus dem Publikum ergänzten die Klangfotogalerie, mit der diese anregende Arbeit eröffnet wurde.
Auch für das begleitende Konzertprogramm kooperierte die Biennale diesmal mit bewährten Veranstaltern vor Ort: Neben dem Münchener Kammerorchester und den Philharmonikern mit einem zeitgenössischen chinesischen Programm (siehe www.nmz.de) beteiligte sich das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks mit einem musica-viva-Konzert am Festival. Unter George Benjamins Leitung verhalf der unerschütterliche Pierre-Laurent Aimard dem Klavierkonzert seines Landsmanns Tristan Murail zu einer schillernden, den Klavierklang als Ausgangspunkt für mannigfaltige orchestrale Auffächerungen verstehenden Premiere. Den auf Henry Charles Litolff und Franz Liszt anspielenden Untertitel „Concerto Symphonique“ erfüllt Murail mit einem Rekurs auf die zwischen Sonatensatz und viersätziger Symphonieform changierende „double-function-form“; auch die für die spätromantische Gattungstradition (unfreiwillig) charakteristische „Augenmusik“, bei der man den Pianisten spielen sieht, aber nicht hört, schien Murail augenzwinkernd zu integrieren.
Als Forum für die Zukunft des Musiktheaters und dessen Vermittlung war ein zweitägiges Symposium angelegt, das Akteure aus verschiedenen künstlerisch-pädagogischen Projekten zu einem anregenden Gedankenaustausch zusammenbrachte, darunter auch die Macher von „Musik zum Anfassen“, über deren Biennale-Arbeit „AndersArtig“ Reinhard Palmer im unten stehenden Beitrag berichtet.
Der Brückenschlag nach Berlin, dem Uraufführungsort von Schrekers „Fernem Klang“, blieb schließlich Absolventen und Studierenden der Universität der Künste vorbehalten. Die aus Yoav Pasovskys „Pavane“ ableitbaren Stichworte Echo, Spiegelung und Performance sorgten auch in den Folgewerken für einen gewissen Zusammenhalt dieser mit „A Game of Fives“ betitelten Gemeinschaftsproduktion. Des Weiteren zog sich ein unverkrampfter, dabei aber hochprofessioneller Umgang mit elektroakustischen und elektronischen Gestaltungsmitteln durch den wunderbar hintersinnig-sinnfreien Abend, der lose um das Œuvre Lewis Carrols kreiste. Cathy van Eck ließ Sängerinnen mit einer schlichten Vorrichtung aus Mikro und Lautsprecher interagieren, Leah Muir lieferte eine abgedrehte Vertonung eines PowerPoint-Vortrags, bei Abel Paul erweckten Klangfragmente auf geheimnisvolle Weise einsame Instrumente zum Leben, Iñigo Giner Miranda entwarf virtuos komponierte Miniaturszenerien rund um Recycling-Gitterboxen. Auch hier waren durchaus vielversprechende „Nuclei“ künftiger Opern enthalten.