Auf die Nachkriegsavantgarde von Nono, Boulez, Stockhausen und anderen reagierten in den 1960er-Jahren verschiedene Gegenbewegungen. Während das konstruktive Fortschritts- und Reinheitsstreben des Serialismus noch dem Ideal des opus perfectum et absolutum folgte, stellten Konzeptualismus, Situationismus, Happening und Fluxus die traditionellen Kategorien Werk, Original, Autorschaft, Musik- und Kunstbegriff umso grundlegender in Frage. Anstelle der Objekthaftigkeit von Kunst betonte man deren Ereignishaftigkeit im Hier und Jetzt. Doch obwohl sich die Konzept- und Aktionskunst gegen Reproduktion und Musealisierung immunisierte, führten viele Happenings zu Produkten und Dokumentationen, die sich dann erneut als Artefakte signieren, verkaufen, sammeln und ausstellen ließen. Die Flucht aus dem goldenen Käfig landete so erneut in den Vitrinen von Kunstmarkt und Museum. Die Antikunst wurde zum ausstellbaren Geist in der Flasche.

Kunstsammlung NRW: Yoko Ono – Peace is Power. Foto: Linsa Inconi
Der Geist in der Flasche
Yoko Ono in Düsseldorf
Bis Februar beziehungsweise März 2025 beleuchten im Rheinland – damals Zentrum der Fluxus-Bewegung – gleich zwei Ausstellungen einst radikale Versuche zur Verflüssigung ästhetischer Kategorien. Die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf porträtiert in Kooperation mit der Tate Modern das Lebenswerk der 1933 in Tokio geborenen Künstlerin und Friedensaktivistin Yoko Ono. Auf der Fassade der Kunsthalle K20 prangt in riesigen Lettern „Peace is Power“. Die Abwandlung des alten Flower-Power-Credos „Make love not war“ hatten Yoko Ono und John Lennon aus Protest gegen den Vietnamkrieg 1969 sowohl beim gemeinsamen „Bed Piece“ vor Journalisten, Fotografen und Fernsehteams als auch auf grosßen Plakaten „War is over! If you want it“ sowie 1971 auf der gemeinsamen Single „Happy Xmas (War Is Over)“ demonstriert. Seitdem blieb das Eintreten für Frieden Lebensaufgabe und Markenzeichen der multidisziplinären Künstlerin. Die Botschaft ist zwar universell, wird aber täglich widerlegt. Ihr verzweifelter Trotz wirkt daher naiv oder gar zynisch, weil er die realen kriegerischen Machtverhältnisse ignoriert.
1956 ging Yoko Ono mit ihrem damaligen Ehemann, dem Komponisten Toshi Ichiyanagi, nach New York, wo sie Teil der experimentellen Musikszene wurde. Mit La Monte Young veranstaltete sie Konzerte und Events. In der AG Gallery von George Maciunas – Initiator der Fluxus-Bewegung – hatte sie 1961 ihre erste Einzelausstellung. Sie begegnete und arbeitete mit Nam June Paik, John Cage, David Tudor, Earl Brown, George Brecht, Philip Corner und anderen. Wie all diese Musiker und Künstler notierte auch Ono bereits seit 1953 Instruktionen, die sie in ihrem Buch „Grapefruit“ versammelte. Es sind kurze Handlungsanweisungen für Musik, Malerei, Event, Lyrik oder Objekte, die sie teils selbst ausführte, meist aber der Einbildungskraft der Lesenden überließ: „Smoke Piece: smoke everything you can. Including your bubic hair”; „Smell Piece: send smell signals by wind“; „Line Piece to La Monte Young: Draw line. Erase line“.
Von 1966 bis 1971 lebte sie in London, wo sie John Lennon kennenlernte. In der Boulevard-Presse erfuhr sie hässliche Anfeindungen, weil sie angeblich die Beatles gespalten habe. Zugleich wurde sie erst durch Lennons Berühmtheit über den kleinen Kreis der experimentellen Kunstszene hinaus zur gefeierten Ikone der Popkultur. Viele ihrer Arbeiten wirken inzwischen jedoch historisch. Ihr Song „Woman Power“ mochte 1973 seinen emanzipatorischen Impetus gehabt haben, erscheint heute aber ebenso zeittypisch-allgemein wie insgesamt ihre wenig inspirierte Beatmusic. Die Düsseldorfer Ausstellung MUSIC OF THE MIND zeigt rund zweihundert Exponate aus Onos „heroischen“ 1960er-Jahren. Neben Fotografien, Objekten und Installationen kann man ihren vokalen Soundtrack zum Film „AOS“ von Yōji Kuri und ihre drei LPs mit John Lennon hören. Eine der wenigen späteren Arbeiten ist „A Hole“ von 2009. Eine Glasplatte mit Durchschuss fordert zum Wechsel der Perspektive von Täter und Opfer auf: „Go to the other side of the glass and see through the hole.“
„Fluxus und darüber hinaus“ in Köln
Die Ausstellung im Museum Ludwig Köln erschließt die Interdisziplinarität des Fluxus über Arbeiten von Ursula Burghardt (1928–2008) und Benjamin Patterson (1934–2016). In Halle an der Saale geboren, floh Burghardt mit ihrer jüdischen Familie vor den Nazis nach Buenos Aires, wo sie Malerei und Grafik studierte und schließlich Mauricio Kagel heiratete. Beide wollten nach Paris, kamen mittels DAAD-Stipendium 1957 aber nach Köln. Beim parallel zum damaligen Weltmusikfest der IGNM stattfindenden „Contre-Festival“ im Atelier von Mary Bauermeister lernte Burghardt die Experimentalisten Cage, Tudor, Paik, Pearson, Hans G Helms und den aus Pittsburgh stammenden Kontrabassisten Ben Patterson kennen. Er war einer der ersten schwarzen Musiker in US-amerikanischen Orchestern und zwei Jahre Mitglied des Seventh Army Symphony Orchestra in Stuttgart. Zudem war er 1962 Mitwirkender bei den von Maciunas – damals Grafiker im Headquarter der US-Streitkräfte – veranstalteten „Internationalen Festspielen Neuester Musik“ in Wiesbaden, wo sich Patterson 1992 dauerhaft niederließ.
Burghardts Plastiken aus Metall und Aluminium zeigen ein klares Verständnis von Material, Proportion, Perspektive und Form. Mit verfremdeten Möbeln, Küchenutensilien Alltagsgegenständen und Spülbecken thematisierte sie die damalige Festlegung von Frauen auf Hausarbeit und das bis 1977 in der BRD gültige Gesetz, das Frauen nur mit Erlaubnis des Ehemanns eine Erwerbstätigkeit gestattete. Ab den 80er-Jahren zeichnet sie detailreiche Zyklen. Eine Serie zeigt fantasievolle Hybride aus menschlichen Figuren, Schrauben und technischen Bauteilen, gefolgt von einer Bildbiografie des fiktiven Forschers Onofrio Cipresso sowie zahlreichen Porträts stadtbekannter Kölner Persönlichkeiten als Kinder mit erkennbarem Erwachsenengesicht, darunter Kagel. Abgesehen von „Ludwig van“ wird Burghardts Mitwirkung an vielen theatralen, installativen und filmischen Arbeiten ihres Mannes leider nicht offengelegt.
Zahlreiche Fotos und Videos zeigen Paik, Wolf Vostell, Daniel Spoeri und andere Fluxisten der Zeit. Patterson sieht man, wie er seinen Kontrabass mit Wäscheklammern und Schraubzwingen präpariert und dann mit zwei Bögen, Hammer, Papier, Seilen und Glas traktiert. Größeren Raum nehmen seine späteren Arbeiten ein. In „Flying Bass“ von 2012 wird sein Instrument zum Flugobjekt, auf dessen Unterseite der Musiker seine Reisen der letzten Jahre vermerkte. Bei den „3 Operas“ aus den 1990er-Jahren erklingen zu simplen Aktionen CD-Aufnahmen von „Carmen“, „Madame Butterfly“ und „Tristan und Isolde“. Bei „Rheingold: Ein Neuer Versuch“ wird zu Wagners Musik entlang des Mittelrheins Gold aus dem Fluss zu schürfen versucht. Das visuelle Beiwerk will der Komplexität und Expressivität der Opern in keiner Weise gerecht werden. „Nano-Fluxus“ von 2008 besteht aus beliebigen Fundsachen, Spielzeug und Trash.
Mehr historisch als ästhetisch
Beide Ausstellungen zeigen, dass Fluxus ohne intakten bürgerlichen Wertekanon keine Provokation mehr entfaltet. Die Dekonstruktion des Musik- und Kunstbegriffs wurde seitdem so oft wiederholt und kunsthistorisch kanonisiert, dass die ursprüngliche Intention, durch Anstöße zur Selbst- und Weltreflexion auch Kunst und Leben zu verbinden, nur noch schal erscheint. Die meisten Exponate und Filmdokumentationen wirken historisch, statt ästhetisch an- und aufregend, auch weil viele Konzepte nur eine Idee verfolgen, nicht aber eigengesetzliche Verhältnisse von Material, Raum, Zeit, Form, Bedeutung entfalten. Schließlich zeugen beide Retrospektiven auch von der aktuellen Sehnsucht nach einem ästhetischen Aufbruch, den man gegenwärtig jedoch vermisst. Im Gegensatz zur Düsseldorfer bietet die Kölner Ausstellung immerhin ein reiches Begleitprogramm mit kunsthistorischen Vorträgen, einer Lesung von Deborah Kagel aus dem Buch über ihren Vater, eine Expertenrunde über die konservatorischen und kuratorischen Herausforderungen von Fluxus sowie drei Konzerte mit Stücken von Patterson und Kagel. Ob diese Aufführungen den Geist der 60er-Jahre dann wieder aus der Flasche lassen?
Weiterlesen mit nmz+
Sie haben bereits ein Online Abo? Hier einloggen.
Testen Sie das Digital Abo drei Monate lang für nur € 4,50
oder upgraden Sie Ihr bestehendes Print-Abo für nur € 10,00.
Ihr Account wird sofort freigeschaltet!