Wien ist in Faschingslaune. Schon daher waren die Erwartungen groß: Im Museumsquartier wird mit „Candide“ ein „Feuerwerk der Musik“ gezündet und „sprühen alle Funken“. So war es bereits vorab auf den Flachbildschirmen der Öffentlichen Verkehrsmittel zu lesen. Das vom Theater an der Wien mobilisierte Team um die US-amerikanische Regisseurin Lydia Steier und den Dramaturgen Kai Weßler gab sich viel Mühe, den ursprünglich theologiekritisch fundierten „Candide“-Plot aufzupolieren – originär stammt er von Voltaire aus dem 18. Jahrhundert. Nach dem Zweiten Weltkrieg reaktivierte ihn die inzwischen in Vergessenheit geratene Erfolgsautorin Lillian Hellman in den Vereinigten Staaten durchaus auch unter politischen Aspekten. Mit zunächst nostalgisch getönten Bildern einer kunstwestfälischen Idylle, dann mit bewährten Kunst- und Bravourmitteln des älteren Broadway-Musicals wird Bernsteins singuläre Musik-Melange grell vitalisiert, kontrapunktiert und gesteigert. Der bunte Trubel mündet in allgemeinen Jubel.
Der kaum verbesserungsfähige Optimismus: Lydia Steier inszeniert eine Bearbeitung von Bernsteins „Candide“ im Wiener Museumsquartier
Wechselwirkungen zwischen alter und Neuer Welt
Mit Stoßrichtung gegen idealistische deutsche Naivität warf eine Novelle des reisefreudigen scharfzüngigen Publizisten Voltaire 1758 die Ausgangs- und Ziel-Frage nach der besten aller denkbaren Welten auf. Zugleich die nach der Instanz, die sie angeblich ein- und ausgerichtet hat. Die Fragestellung des in vielen Bearbeitungsstufen fortgeschriebenen Plots entbehrt nicht der Aktualität in einer neuerlich glaubenshungrigen und von grotesken Narrativen gefluteten Zeit. Die einfache Antwort war und ist: Die Welt ist nun einmal, wie sie ist.
Auch in Wien nutzen die Theaterleute, die sich in diesem Fall in den Sattel einer philosophiekritischen Idee schwingen, den Episodencharakter des Werks, um einerseits die Hinweise auf die Schönheiten des besonnten Lebens, Glücksversprechungen, Wirklichkeit werdende Heldenträume, Geldsegen und Goldregen auszukosten. Andererseits bietet sich ihnen insbesondere auch eine Suite von Steilvorlagen, um die für Voltaires negative Beweisführung notwendigen Schrecken, Katastrophen und Gräuel mit parodistischer Würze aufzubereiten – Standesdünkel, Vertreibung, Krieg, Gefangenschaft, sexuelle Gewalt, Naturkatastrophen, Flucht, Havarie, wirtschaftlicher Ruin, religiöser Fanatismus. Dabei haben die zuletzt von Barrie Kosky pointierten Operetten-Bilder und Theatermittel Pate gestanden.
Zu den eingebürgerten Narrativen der Musikgeschichtsschreibung gehört, dass sich die Tonkünstler in und aus Nordamerika auf der Suche nach genuin regionalen oder nationalen Tonsprachen lange Zeit schwertaten, unabhängig von europäischen Vorbildern eigene Wege zu finden. Länger jedenfalls als beispielsweise ihre Kollegen in Brasilien. Die sich auf von vermischten Kulturen geprägte Traditionen in Südamerika stützen konnten. Anders als die meisten seiner etwas älteren oder gleichaltrigen Kollegen wurde der 1918 in Massachusetts geborene Leonard Bernstein nur in den Vereinigten Staaten ausgebildet. Allerdings in hohem Maß von Künstlern, die dorthin wegen der Wirtschaftskrisen in Europa oder der Verfolgung als Juden bzw. Kommunisten emigriert waren. Für die sowohl in Europa wie in Südamerika spielende Handlung einer amerikanischen „Comic Operetta“ erwies es sich als Glücksfall, dass sich deren Kompositionsweisen aus Zuflüssen beider Hemisphären speisten.
Vielfalt, auch der Fassungen
Bernstein reflektierte, dass genuin amerikanische Musik nur die eines „Schmelztiegels“ sein könne. Mit seiner „Candide“ gelang ihm eine der bemerkenswertesten Grenzgängerinnen zwischen U- und E-Musik in einer Zeit, in der sich Hoch- und Populär-Kultur noch antagonistisch gegenüberstanden. Für ein Theater am Boulevard konzipiert, wurde „Candide“ nach der Uraufführung 1956, einem „sensationellen Desaster“, dort nicht heimisch. Angesichts der dann aber doch als überwiegend gelungen angesehenen Melange der musikalischen Mittel und insbesondere des Esprits der Melodien wurde das Werk mehrfach umgearbeitet. Zunächst mit verschiedenen Mitarbeitern von Bernstein selbst, des Weiteren auch nach dem Tod des Komponisten.
In der Halle E des Museumsquartiers wurde nun eine Aufbereitung der mit Unterstützung von Hershy Kay entstandenen „Concert Version“ in Szene gesetzt. Die Moderationen des elegant und pointensicher moderierenden Erzählers Vincent Glander stützen sich auf Texte von Bernstein und John Wells. John Mauceri steuerte „musikalische Übergänge“ und zusätzliche Instrumentation bei. In den Hintergrund tritt durch die zwölfzeilige Titelei, dass die Idee, den Traktat Voltaires zu dramatisieren und mit Musik zu versehen, von der kommunistisch orientierten Lillian Hellman stammt. Sie verfasste für Bernstein die Textvorlage, die unmittelbar mit ihrer Verfolgung durch das mit dem Namen Joseph McCarthys verknüpfte Komitee gegen „unamerikanische Umtriebe“ zu tun hat, mit den Anschuldigungen gegen ihren zweiten Ehemann, den Romancier Dashiell Hammett, wie auch der Observation und Drangsalierung Bernsteins durch sinistre Staatsschutzinstanzen. Nicht zuletzt werden mit „Candide“ auch Inquisition und Autodafé ins Visier genommen.
Durch den relativ häufigen Gebrauch in Konzertsälen und Rundfunksendungen prägte sich die aus den effektivsten Nummern der Operette abgeleitete Ouverture ins Gedächtnis des „Klassik“-Musikpublikums ein. Kaum ein Kommentar verzichtet darauf, die auratischen fünf Minuten als „orchestrales Feuerwerk“ zu rühmen. Marin Alsop, Schülerin des Komponisten, ist sich ihrer Rolle als instrumentale Pyrotechnikerin sichtlich bewusst. Sie verzichtet freilich hörbar aufs Forcieren oder den Versuch, einen neuen Geschwindigkeitsrekord anzupeilen. Souverän steuert Alsop das ihr anvertraute RSO-Orchester Wien durch die Wellen der unterschiedlichen thematischen und stilistischen Titel, Temperaturen, Temperamente. Besonderes Augenmerk legt sie auf lyrische Komponenten. Die Jazz-Elemente bringen ihre Musiker zum Funkeln. Die herrischen Gesten, mit denen Alsop im Film „Tár“ parodiert wurde, scheinen inzwischen einer sinnvollen Kontrolle unterworfen. Und das ist gut so.
Theodizee und Authentizität
Die Handlung folgt den Lebensreisewegen von Cunegonde, der Tochter des Barons Thunder-ten-Tronck, und Candide, dem „unehelichen Cousin“. Erörtert wird die vom polyglotten Hauslehrer Pangloss vermittelte Lehre der „Theodizee“: dass Gott die „beste aller Welten“ eingerichtet und die Monogamie als beste aller Lebensformen vorgesehen habe. Voltaire rechnete mit der Theologie und Morallehre des Mathematikers und Philosophen Gottfried Wilhelm Leibniz ab. Ben McAteer führt die Parodie eines putzig verschrobenen deutschen Provinzgelehrten vergnüglich vor.
Während sich reichlich Adaptionen von Gavotte, Walzer, Mittelhochpolnisch, Tango & Co. in Bernsteins Partitur einfanden und die Koloraturarie „Glitter and be gay“ die Grand Opéra ironisierte, wurde einzig dem Titelhelden Candide eine Partie zugeschrieben, die auf Versatzstücke aus dem abendländischen Musikkulturgut verzichtet. Er wird als „authentisch“ charakterisiert. Er ist das von Freud und Leid betroffene Versuchskaninchen des behaupteten göttlichen Heilsplans, den die Wirklichkeit widerlegt. Er bleibt, auch angesichts verwerflicher Taten, der naive positive Held des Komponisten.
Bernstein unterstrich in öffentlichen Verlautbarungen während der Entstehungszeit des Werks, er „glaube an den Menschen“, gestehe ihm das Recht auf Irrtum zu und vertraue auf „seine Fähigkeit, sich zu ändern, zu wachsen, sich mitzuteilen und zu lieben“. Das klingt wie das Grundgerüst eines erbaulichen Erziehungsromans, beschreibt aber recht genau den Weg des zunehmend skrupellos seinem Vorteil nachjagenden Candide, der umständehalber Tötungsdelikte begeht und sich im Hinterland des Río de la Plata als Warlord einsetzen lässt. Er wird aber auch zum grotesken Wohltäter und schließlich ein geläutertes Mitglied einer demokratischen Gemeinde im ländlichen Westfalen, fleißig-bescheiden an der Seite der glücklich wiedergefundenen Partnerin.
Das Ideal einer „Show mit faszinierendem Broadwayflair“
Momme Hinrichs ließ im Wiener Museumsquartier eine dreigestaffelte Guckkastenbühne zunächst mit einem Landhaus und Gartenidylle im Stil naiver Malerei erfüllen. Lydia Steier sorgte dafür, dass sich die kleine feine Gesellschaft in den Pseudorokoko-Kostümen von Ursula Kudrna geziert bewegt. Für einen langen Augenblick scheint das kleinadelige Familienglück so ungetrübt wie das Erziehungskonzept von Dr. Pangloss von Erfolg gekrönt. Den jugendlich naiven Candide, der wegen seines übers rein Geistige allzu weit hinausgehenden Interessen an Cunegondes körperlichen Reizen recht bald aus diesem Paradies vertrieben wird, verkörpert der blonde Tenor Matthew Newlin in entzückender Weise. Auch des Weiteren singt er sich mit seinem schnörkellos geführten, schlicht sympathiefördernden Tenor durch die weite Welt, als wäre er auch im größten Pech noch irgendwie Hans im Glück.
Die Bühne mutiert zur Revuetreppe. Spätestens mit dem Gemetzel eines versprengten Trupps bulgarischer Soldateska gerät die heile Welt aus den Fugen. Zu den Opfern des Gemetzels gehört Cunegonde. Obwohl geschändet und zerstückt, ersteht sie dank höherer theatraler Fügung von den Toten auf – nicht anders als der dann seine Syphilis besingende Dr. Pangloss. Cunegonde, in einen Goldenen Käfig gesperrt, macht sich als Sexarbeiterin in Paris um den Geldmagneten Don Issachar und zugleich den Erzbischof verdient. Aber auch weitere Mitwirkende finden sich bei Steiers sportiver Gruppensexszene im Grand Lit ein und wackeln mit den Hasen- oder Bärenöhrchen im einschlägigen Rhythmus. Das Bett erigiert. Nikola Hillebrand durchlebt die Zumutungen und Privilegien ihrer Bühnenexistenz als Mätresse mit charmanter Eleganz, auch später die als Zwangspartnerin eines Gouverneurs in Buenos Aires. Cunegondes Koloraturen, originale Hehlerware Bernsteins, absolviert Hillebrand mit leicht verhaltener Bravour.
Vor dem Inquisitionsgericht in Lissabon, das unter den Ausländern und Ketzern nach den Schuldigen für das verheerende Erdbeben von 1755 sucht, redet sich Pangloss um Kopf und Kragen. Er wird gehenkt, überlebt aber nochmals. Candide entkommt mit kleiner Entourage über den Atlantik. Dort ist er als Mann der Tat, dem ein Menschenleben nicht viel gilt, willkommen. Während der Abstecher nach Paraguay, Eldorado, Surinam und Venedig tendiert das Turbulenz-Theater zu Ermüdung. Die bildkräftigen Episoden der Museumsquartier-Show können trotz eines Matrosenballetts, an dem Kaiser Wilhelm II., seine helle Freude gehabt hätte, und trotz einiger „Auflockerungen“ mit Platt- und Derbheiten nicht länger verhehlen, dass das Werk die Pensionsaltersgrenze inzwischen überschritten hat. Wenn allerdings nach dem Schiffbruch die Varieté-Insignien von einem großen blauen Tuch abgedeckt werden, aus dem die Oberkörper der ums Überleben kämpfenden „Prinzen, Kriegsherren und Despoten“ aufragen, konstituiert sich ein abgründiges Theater-Bild, das auf den „Ozean der Gewaltherrschaft“ verweist. Insgesamt aber müsste und könnte der Bezug zu Aktualität anders aussehen. Enttäuscht wurde, wer während der zweiten Halbzeit einen Wechsel der inszenatorischen Gangart erwartet hatte – so etwas wie „Brechung“ des allzu anschmiegsam absolvierten Narrativs oder gar das Hereinbrechen heutiger Desillusionierungsargumente. Doch Steiers Theater argumentiert nicht.
Marin Alsop treibt das Orchester auf den dröhnenden apologetischen Schluss zu. Matthew Newlin, der geläuterte Candide, pflanzt und gießt dazu ein Bäumchen. Den theaterkonservativen Wiener Äffinnen und Affen wurde eine Überdosis Zucker gegeben. Die dem Werk eingeschriebenen gesellschaftskritischen Fermente haben sich weitgehend verflüchtigt, das einst aktualisierende Agens der Librettistin Lillian Hellman zumal. Damit wird eines der Hauptwerke Bernsteins wohl aber doch ein wenig unter Wert verkauft.
Am 27. Jänner bringt die Regisseurin Lotte de Beer, sekundiert von dem in Puerto Rico geborenen und in New York sozialisierten Choreographen Bryan Arias an der von ihr geleiteten Volksoper die „Westside Story“ heraus. Damit erhält das Musiktheaterleben im winterlichen Wien einen veritablen Bernstein-Schwerpunkt und die Möglichkeit, unterschiedliche Frauenzugänge zu Pionierwerken des genuin US-amerikanischen Musiktheaters zu vergleichen.
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