Ob mit jeder radikalen Neuerung im zwanzigsten Jahrhundert bei den Neuerern eine Disposition zur Klaustrophobie, zur Angst vorm Eingeschlossensein vorausgesetzt werden darf, wäre vielleicht eine Untersuchung wert. Edgard Varèse, der ewig Neue, litt zeitlebens an ihr, sowohl im landläufigen Sinne „psychisch“ wie auch im sublimeren Sinne „ästhetisch“, indem er sich fortwährend kompositorisch-kompensatorisch die „Klaustren“, Engräume, schuf, die er benötigte, um in die Weiten seiner klanglichen Raumprojektionen ausbrechen zu können.
Der ästhetische Aufbruch im zwanzigsten Jahrhundert, als Emanzipation rationalisiert, hat in den wichtigsten Strömungen der neueren Musik, von Schönbergs „Luft von anderem Planeten“ bis zu Stockhausens mystischen Fühlungnahmen mit dem Kosmischen, vor allem eine Gemeinsamkeit hervorgebracht: Sie hat den Raum (neu) entdeckt – und mit ihm zugleich neue Formen der Bewegung und Beweglichkeit. Und „bewegte“ sich erst das musikalische Material, dann bewegte sich buchstäblich alles, was sich mit ihm verband: Es bewegten sich die Musiker, es bewegte sich das Publikum, es bewegte sich der Innenraum des Betrachters; und indem sich dieser bewegte, bewegte sich auch das Betrachtete selbst. So entstand eine neue Dialektik der Klangwahrnehmung und mit ihr zugleich eine neue Art der Wahrnehmung von Sinnzusammenhängen, die mitunter über das rein Musikalische weit hinausgeht.
„…aus der Bewegung… Aktionen, Räume, Resonanzen in zeitgenössischer Musik“ lautete das Motto, unter dem die pgnm, die Projektgruppe Neue Musik Bremen, ihr mittlerweile dreizehntes Festival ausrichtete. Zwischen St. Petri und Radio Bremen, der Weserburg und dem Tor 48 des Bremer Güterbahnhofs spannte sich ein imaginäres Zelt, unter dessen Dach sich die Ereignisse geradezu drängten. Es gab vorbildhafte, den Raum, die Zeit und das Material klug exponierende Arbeiten: „shopping“ von Michael Maierhof etwa, mit ungeahnten Resonanzen aus zweiunddreißig Luftballons; „Eolo ‘oolin“ für sechs pentagonal über die Grundfläche des Petri-Doms verteilte Schlagzeuger des Mexikaners Julio Estrada (der im anschließenden Gespräch staunenden Zuhörern die Zusammenhänge zwischen seinen Materialerkundungen und dem Weltfrieden erläuterte); wie auch die französischen Kompositionen des letzten Abends, ebenso vorbildlich aufgeführt vom Ensemble Les Percussions de Strasbourg.
Und es gab aber auch das Abweichende und nicht eben Vorbildhafte: Uwe Raschs „drift“ für ein Ensemble zum Beispiel, dessen Pianist die Tasten nicht mit flinken Fingern, sondern dem schwerfälligeren Schädel (Florian Müllers) betätigte. Oder „Parallaxe A“ für Ensemble und Zuspielband von Alex Buess, in welchem (einmal mehr in der Neuen Musik) die Grenzen der Dynamik und ihrer Erträglichkeit für den Menschen ausgetestet wurden. Mit wüster Sprengkraft katapultierte sich unterdessen Hans-Joachim Hespos’ „Seiltanz“ zum meistdiskutierten Ereignis des Weekend-Festivals empor, ein „szenisches Abenteuer“ (ausgeführt vom Ensemble Phoenix aus Basel), in dessen Verlauf die Frage, was ein Künstler dürfe und was nicht, buchstäblich von einer Schreckensminute zur nächsten auf die einfache existentielle Formel reduziert schien: Er darf alles, was ihn nicht ins Gefängnis bringt. Gewiss war die anschließend gestellte Frage berechtigt, welche Qualitäten dieser „Seiltanz“ als Musik ohne Szene besessen hätte, das heißt ohne diesen hartnäckig pöbelnden, das Publikum anmachenden, aufmischenden, mit einer an Ketten gezogenen Metallwanne unablässig in Angst und Schrecken versetzenden Hauptdarsteller (Mateng Pollkläsener). Doch die Frage scheint wiederum in sich von Ängsten und überhaupt einer Verkennung der Funktion künstlerischer Aktion bestimmt. Hespos’ Seiltanz-Aktion an den Grenzen des sowohl ästhetisch wie juristisch „Erlaubten“ ging einem durch und durch und bezwang weit mehr durch die Verstörung, die sie auslöste, als dass sie wirklich gestört hätte.
Weniger einem Wunder als der realen Kraft und pragmatischen Umsicht, mit der die Leitung der Projektgruppe Neue Musik Bremen (insbesondere Ute Schalz-Laurenze und Nicolas Schalz) diese Veranstaltungen konzipiert und durchführt, ist zu verdanken, dass das Festival nicht nur noch existiert, sondern, von Jung und Alt stark frequentiert, weit über die Grenzen Bremens wahrgenommen wird. Wo gibt es das noch heute, dass ein Kulturetat nicht unter fadenscheinigem Vorwand „gesundgestrafft“ oder gar „wegrationalisiert“ wird?
Den Veranstaltern sind die Mittel zwar nicht gekürzt worden, die Kosten aber sind gestiegen. Aus einem jährlichen Festival droht eine Biennale zu werden. Nachdem Radio Bremen die einst von Hans Otte geschaffene und zu hohem internationalen Ansehen geführte „Pro Musica Nova“ aus seinem Programm entfernt und seine Aktivitäten im Bereich der Neuen Musik auf ein Minimum reduziert hat, steht die pgnm Bremen heute im nördlichen Westen Deutschlands recht einsam da als die wohl einzige noch verbliebene Institution Neuer Musik mit überregionalem Anspruch und internationalem Flair.
Mögen die Hauptsponsoren – es sind der Bremer Senat, die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, der Deutsche Musikrat Bonn und die Kulturabteilung der Französischen Botschaft Berlin – einen Weg finden, diese bedeutende Kultureinrichtung vor dem schleichenden Verfall zu bewahren.