Von Zeit zu Zeit gehört ein gewisses Quantum Puccini einfach in jeden Spielplan. Selbst wenn das Motto Champagner über der Spielzeit steht wie in Halle. Irgendwann ist schließlich auch in der Mansarde der verkrachten Künstlerexistenzen im Klischee-Paris davon die Rede. „La bohème“ ist einer von Giacomo Puccinis (1858-1924) Dauerbrennern und eine sichere Bank beim Publikum.
Der Tod steht ihr (zu) gut – Walter Sutcliffe inszeniert in Halle Puccinis „La bohème“
Besonders bei diesem Italiener wird es so hemmungslos genregemäß gefühlig. Als Zuschauer kann man den meisten seiner Heldinnen das Mitgefühl nicht verweigern. Natürlich auch nicht der todkranken Mimi, die in Paris mitten in jenem Künstler-Milieu stirbt, das sprichwörtlich geworden ist und von dem Puccinis 1896 in Turin uraufgeführte „Bohème“ ihren Namen hat.
Für den regieführenden Intendanten Walter Sutcliffe geht es, wie er im Programmheft sagt, um unseren existenziellen Umgang mit der Kunst, für die der Maler, der Dichter, der Musiker und der Philosoph im Stück stehen und die „dem Nichts Bedeutung geben wollen.“ Deren Atelier-WG fehlt zwar der sprichwörtliche Ausblick über die Dächer von Paris, weil nichts (mehr) durchsichtig ist an diesen Atelierfenstern. Aber vertraut wirkt die Behausung, die wir im ersten Bild sehen, schon. Das Bühnenportal hat Ausstatter Jon Bausor mit einem Rahmen versehen und davor ein paar Scherben platziert. Dort scheint als Projektion dann auch jenes Bild auf, das sie alle an der Bar zeigt, über der das Bild schließlich hängt und von dem bei Mimis Tod am Ende (in einer Videoeinspielung auf dem Vorhang) alle verschwinden. Soviel inszenierten Überbau gibt es schon.
Grund zur Sorge oder für einen Einwand ist das nicht, denn in diesem Rahmen im doppelten Wortsinn wird die Geschichte geradeaus erzählt. Und Puccinis Musik entfaltet ihre Wirkung. Wobei Fabrice Bollon mit der Staatskapelle so beherzt auf das Aufrauschen und Gefühlspathos setzt, dass das über weite Passagen vor allem sehr laut rüberkommt. Was den Protagonisten keine Wahl lässt, als vokal in die Vollen zu gehen. Vor allem Chulhyun Kim ist als Rodolfo nicht zu beneiden. Sein Durchhaltevermögen – gefühlt am Limit – ist bewundernswert. Dabei kann er sich auf seine trompetenhafte Höhe verlassen. Die junge, am Anfang ihrer Karriere stehende Anastasiia Doroshenko als Mimi setzt dem eine überzeugend aufblühende Wärme entgegen, auch wenn sie mit ihrer Gestik die Todkranke (noch) konterkariert. Vielleicht auch, weil überhaupt die Personenführung erstaunlich oft auf szenische Standbilder setzt.
Franziska Krötenheerdt hat mit ihrem Charisma natürlich kein Problem, eine verführerische Musetta hinzulegen und ihren Verehrer Alcindoro (in dieser Maske erinnert Gerd Vogel an irgendwie an Jo Biden) im wahrsten Wortsinn aufs Kreuz zu legen. Uneingeschränkte Freude machen die differenzierenden Charakterbilder, die Michael Zehe als Musiker Schaunar, dem sonoren Ki-Hyun Park als Colline vor allem aber Andreas Beinhauer als Maler Marcello gelingen. Auch der von Frank Flade einstudierte erweiterte Chor wie auch der von Bartholomew Berzonsky einstudierte Kinder- und Jugendchor halten im verordneten vorweihnachtlichen Einkaufstrubel vor dem gutbestückten Bartresen musikalisch überzeugend Kurs.
Um den Überbau der Inszenierung zu ergründen oder einfach der Geschichte und der Musik zu folgen, kann man die Übertitel natürlich auch einfach ignorieren. Macht man das nicht, dann wirken sie gelegentlich wie ein ziemlich plattes Anbiedern an den Zeitgeist. Da kaufen die Pariser Künstler im „Späti“ ein, es wird mit „Scheiss-Schuhe“ geflucht und wenns ums nicht vorhandene Geld geht, ist von der EZB Chefin die Rede. Wenn freilich die Leipziger Volkszeitung ironisch als Qualitätsblatt verhöhnt wird, dann ist das nicht wirklich witzig. Damit wird immer noch (wie schon in der „Fledermaus“) mit ziemlich kleiner Münze die harsche Kritik des Blattes an einer Inszenierung des Hallenser Hausherrn zurückgezahlt. Souverän geht anders.
Keine Insider-Petitesse ist freilich ein gewisses Knirschen beim Heranzoomen der der Geschichte an die Gegenwart. Die Jungkünstler leben sichtbar prekär, ihre Miete können sie schon seit drei Monaten nicht zahlen. Dass hier die Heizung abgeklemmt ist, passt, dass der Strom noch funktioniert, nicht. Auch dass man für die todkranke, eigentlich Blut spuckende Mimi auf den letzten Drücker Herztabletten besorgt, ihr die aber nicht gibt und sie dann einfach stirbt, hält die Tragik dieses Todes deutlich auf Distanz.
Das Premierenpublikum begrüßte die neue „Bohème“ und alle Beteiligten mit langem Beifall.
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