Zum Auftakt einer neuen Intendanz darf es gerne auch mal etwas Größeres sein. Verdis „Don Carlo“ ist da eine gute Wahl: große Oper mit allen Chancen, auch beim Publikum gut anzukommen. Man kann alles aufmarschieren lassen, was das Haus an Künstlern zu bieten hat. Wenn die neue Generalintendantin des Staatstheaters Braunschweig Dagmar Schlingmann dazu Andrea Moses als Regisseurin einlädt, dann zeugt das obendrein von dem Ehrgeiz, auch szenisch Flagge zu zeigen. Diese Regisseurin und ihr Team Annett Hunger (Bühne) und Adriana Braga Peretzki (Kostüme) denken Verdis Oper natürlich von unserer Gegenwart aus.
Gespielt wird die fünfaktige italienische Fassung. Und auch wenn die um einen Akt kürzere französische Variante dieser von Verdi häufig bearbeiteten Oper oft bevorzugt wird, ist der erste Akt in Frankreich zumindest für das Verständnis der Liebesgeschichte zwischen Elisabeth von Valois und dem Thronerben von Spanien Don Carlo hilfreich.
Elisabeth (mit Strahlkraft und Leidenschaft: Ivi Karnezi) weiß zu Beginn noch nicht, dass der Bote, der ihr das Medaillon mit dem Bild ihres Bräutigams überreicht, selbst der abgebildete Don Carlo (standfest und mit Verve: Eduardo Aladrén) ist. Als sie es bemerkt, fällt sie aus allen Wolken. Aber das war’s dann auch schon mit Witz und Neckerei. Wenn die Kanonen donnern, ist dieser Traum von einer Liebesheirat schon wieder aus. Denn die Könige von Frankreich und Spanien haben beschlossen, dass eine Ehe der Prinzessin mit dem spanischen König selbst, dem neuen, gerade geschlossenen Bündnis, dienlicher ist, als eine mit dem Infanten. Elisabeth wird zwar noch der Form halber gefragt, ob sie einverstanden ist. Aber was soll sie schon machen, angesichts der Friedenssehnsucht des Volkes und des Willens der Herrscher?
Dieser Fontainebleau-Akt der italienischen Fassung von Verdis großformatigster Schiller-Oper erlaubt es zugleich, die spanischen Verhältnisse, in die Elisabeth gerät, als Kontrast zu einem vermeintlich freieren Leben (für Elisabeth) in Frankreich, noch düsterer zu malen. Andrea Moses hält sich in Braunschweig nicht an die Zeit, zu deren Porträt der Historiker Schiller den genialen Dramatiker in seinem „Don Karlos“ verführt hat. Aber diesen Gegensatz macht sie (über-)deutlich. Wobei kaum etwas von der spanischen Hofetikette übrig bleibt.
Die Kostüme, mit denen Adriana Braga Peretzki vor allem das weibliche Personal mehr ent- als verhüllt, flüchten nicht in die überstrapazierte Secondhand-Beliebigkeit, sondern sie schweben frei zwischen den Zeiten, verweisen mit kleinen, augenzwinkernden Zeichen sogar auf das Spanien Philipps II. Hier mal eine spanische Halskrause, da etwas historisch Aufgebauschtes in der knie- und schulterfreien Kleiderkreation für die Königin. Die ihren Kopf im Grace-Kelly-Look mit weißem Tuch und Sonnenbrille verhüllt. Der Clou ist die gewagt rote Haute-couture-Kreation ihrer Hofdame Gräfin von Aremberg, in dem die zur wandelnden Provokation der spanischen Sittenstrenge wird. Klar, dass Philipp sie bei der ersten Gelegenheit nach Hause zurückschickt.
Mit ihrem lasziven Aufzug und dem, was sich zwischen den Mönchen und den Hofdamen hinter den Zimmerpflanzen abspielt, wenn die Prinzessin Eboli ihr berühmtes Schleierlied (auch Nana Dzidziguri höchst verführerisch!) singt, nimmt Moses die historischen Klischees auf die Schippe. Ein wörtlich genommener „Lust“-Garten aus Zimmerpflanzen.
Zuspitzungen als Statement dafür, dass es auch in dieser Episode aus der spanisch, französisch flandrischen Geschichte um die Konstellationen und menschlichen Folgeschäden der Macht geht, die hier übermächtig jedes andere Gefühl dominieren. Im Falle von Elisabeth und Don Carlo verhindern sie es, bevor es richtig zu wachsen vermag. Aber auch im Falle der Zuneigung von König Philipp zu Marquis Posa wird es vom Großinquisitor brutal zerstört.
Die Schlüsselszene zwischen Philipp und Posa spielt sich auch bei Ernesto Morillo (der überzeugend Lebenserfahrung gestaltet) und Eugene Villanueva (mit gradliniger Eleganz und Entschiedenheit) nahezu von selbst. Aber auch die komplementäre Begegnung des Königs mit dem Großinquisitor (mit vitaler Wucht: Luciano Batinić) ist eine der stärksten Szenen des Abends.
Nachts zwischen den hohen Aktenregalen schickt der in eine Decke gehüllte König erst seine Geliebte (die Eboli) weg, sinniert dann darüber, dass ihn seine Frau nie geliebt habe, um schließlich mit dem Großinquisitor aneinander zu geraten. Da erreicht selbst die an sich karge Bühne atmosphärische Wucht, ja beschwört sogar die Finsternis des Escorial herauf. Samt eines kleinen Bosch-Altars. Es ist ein Coup, wenn der Großinquisitor als alter Mann erscheint, plötzlich seinen Stock und die Blindenbrille ablegt und mit purer körperlicher und vokaler Präsenz seine eigentliche Macht verkörpert und den König einschüchtert.
Ein subtiles Echo findet diese Szene am Ende beim Aufstand, den die Eboli zur Befreiung von Don Carlo angezettelt hat. Da hat man für einen Moment den Eindruck, dass es diesem König fast lieber wäre, wenn die Aufständischen Erfolg hätten. Auch in Braunschweig könnte die Oper mal wieder genauso gut „Philipp“ heißen.
Der Griff durch die Zeiten gelingt Moses auch bei der immer heiklen Autodafe-Szene. Da werden zerlumpte Gefangene einer Party-Gesellschaft von heute vorgeführt. Und die lässt jede Zivilisation fahren und kann plötzlich sehr gut mit den barbarischen Symbolen und Ritualen der Erniedrigung umgehen. Das Verteilen der Spitzhüte für die Ketzer (das Hutmodell mit dem auch der Ku-Klux-Klan oder die chinesischen Kulturrevolutionäre ihre Mordopfer ausstaffierten) wird zum Partygag. Und wie man Menschen auf die Knie zwingt und erniedrigt gehört offenbar auch zur sozialen DNA des Menschen. Solche leicht verfremdeten Bilder des Grauens verfehlen ihre Wirkung nicht.
Ebenso wenig wie die Musik, die vom neubestallten GMD Srba Dinić und dem Braunschweiger Staatsorchester mit Leidenschaft aus dem Graben beigesteuert wird.